Ein Schnitt durch die Welt

Aufgelesen (31): Stefan Andres´ Novelle „El Greco malt den Großinquisitor“.

Wie soll sich ein Künstler in einer Diktatur verhalten? Was kann die Gesellschaft von ihm erwarten, was muss er selbst von sich verlangen? Für den Schriftsteller Stefan Andres waren das keine hypothetischen Fragen. 1933 hatte er Deutschland mit seiner jüdischstämmigen Frau Dorothee verlassen, war dann zurückgekehrt, ehe er 1937 endgültig nach Italien emigrierte. Obwohl seine Bücher Krieg, Gewalt und Massenmord, ideologische Verblendung und das Recht auf Widerstand thematisierten, wurden sie im Dritten Reich weiter gedruckt.

1935, Stefan Andres war gerade die Mitarbeit am Kölner Rundfunk gekündigt und jede mediale Tätigkeit untersagt worden, stieß er im schlesischen Lomnitz auf El Grecos Porträt des spanischen Großinquisitors Fernando Niño de Guevara. Wie seine Frau später berichtete, arbeitete er von nun an „Nacht für Nacht“ an der Novelle, um die Entstehung des berühmten Gemäldes im explosiven Spannungsraum von Macht und Kunst zu erzählen.

Die „unerhörte Begebenheit“ ereignet sich gleich zu Beginn. Denn nicht nur der Kaplan des Großinquisitors hatte damit gerechnet, dass sein Dienstherr einen gefälligen und systemtreuen Porträtmaler bestellen würde. Dessen Wahl ist aber auf den Griechen El Greco gefallen, einen Ausländer also, der exzentrische Bilder malt und mit dem unbotmäßigen Arzt Cazalla befreundet ist, dessen Bruder bereits von der Inquisition ermordet wurde. El Greco übernimmt den Auftrag mit einer Kampfansage.

Es wird Zeit, daß alle, die im geheimen wissen, daß die Erde nicht Mitte der Welt ist, auch keinem Menschen mehr einräumen, Mitte der Menschen zu sein. Wir haben eine andere Mitte.

Tatsächlich eröffnet sich den Freunden die Möglichkeit, die Terrorherrschaft des Großinquisitors gewaltsam zu beenden, als der Mächtige erkrankt und ausgerechnet Cazalla um Hilfe bittet. Doch der Arzt wahrt den hypokratischen Eid und der Künstler will am Ende nichts anderes als Bilder malen – freilich nur solche, die der Wahrheit und der Nachwelt verpflichtet sind.

Wißt, es ist umsonst, die Inquisitoren zu töten. Was wir können, ist – das Antlitz dieser Ächter Christi festzuhalten!

El Greco entscheidet sich angesichts der furchtbaren Verbrechen der Inquisition nicht zu einer politischen Aktion. Er zeigt stattdessen das Innenleben der Täter.

Ich male also nicht die Furcht, sondern vielmehr meine Furcht malt. Meine Bilder schneiden die Welt mitten durch, ja, das will ich, und Niño soll gewahr werden, wie der Generalinquisitor inwendig aussieht.

Aber wie sieht es nun aus in einem gnadenlosen Massenmörder, der bereit ist, das Land mit Scheiterhaufen zu überziehen, um seinem religiösen Wahn und seinem unbedingten Machtanspruch Genüge zu tun? Traurig findet El Greco, und das sei eigentlich nicht gut, denn die Menschen könnten sich durch den Anblick eines schwermütigen alten Mannes über seine wahre Natur täuschen lassen. Doch die Dankbarkeit des Großinquisitors der von seinem um Enthüllung kämpfenden Gegenspieler in der Tiefe seines Wesens erkannt wurde, zieht ihn ganz am Ende auf die andere Seite.

Ich habe sein Gesicht erkannt, und dafür ist er dankbar, wie selten ist das! Er ist ein Heiliger um seiner Schwermut willen, ein trauriger Heiliger, ein heiliger Henker!

Quälende Fragen

Auch Bestseller-Autoren werden mitunter in Rekordzeit vergessen. Dass Stefan Andres ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod im literarischen Leben praktisch keine Rolle mehr spielt, ist auf den ersten Blick dennoch schwer verständlich. Schließlich schuf er mit „El Greco malt den Großinquisitor“, der sechs Jahre später entstandenen, zur Schullektüre avancierten und mehrfach verfilmten Novelle „Wir sind Utopia“ oder der epochalen Roman-Trilogie „Sintflut“ prototypische Werke für eine kritische Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus und den Fortwirkungen der Diktatur in der jungen Bundesrepublik.

Zum einen konnte Andres so plastisch und eindringlich erzählen wie wenige seiner Zeitgenossen – blicken wir allein zu Beginn des „Großinquisitors“ auf den hungrigen, nach einer Orange greifenden Kaplan und „die bleichen, beinigen Hände des Priesters, die eine Frucht nur mit der Spitze der Finger faßten und mit den scharfen, langen Nägeln aufstachen“. Zum anderen schien der in Italien lebende, aber noch in Deutschland publizierende Autor ein leibhaftiger Beweis dafür zu sein, dass „man“ in einem menschenverachtenden System so etwas wie Anstand und Würde wahren konnte.

Aber war das genug? Vielleicht nicht und doch erteilte Andres Revolution und Tyrannenmord eine literarische Absage. In seinen beiden berühmtesten Novellen, die derzeit nur noch antiquarisch erhältlich sind, laden die Protagonisten allerdings auch durch ihren Gewaltverzicht eine Schuld auf sich, die nicht mehr abgetragen werden kann: El Greco begegnet seinem „heiligen Henker“ am Ende verstehend und versöhnend, während der Mönch und Soldat Paco seine Tatenlosigkeit in „Wir sind Utopia“ mit dem eigenen Tod und dem von 200 Mitgefangenen bezahlt.

Der christliche Existenzialismus bot Stefan Andres einen Weg, der über den Ausgang seiner Geschichten hinauswies. Denn obwohl sich der ehemalige Klosterschüler und Beinahe-Priester, der Deutschland 1961 ein weiteres Mal verließ und in Rom eine neue Heimat fand, unvoreingenommen mit den Vergehen und dem historischen Versagen seiner Kirche auseinandersetzte, blieb er ihrer Bilderwelt und Sprachgewalt verhaftet. Andres´ Texte fragen nach der Rechtfertigung menschlichen Handels, nach persönlicher Verantwortung, Schuld und Sühne, aber sie suchen auch nach den Erscheinungsformen einer letztgültigen, unverrückbaren Instanz, die den Maßstab für Gut und Böse bildet und möglicherweise bereit ist, einen Teil unserer Last zu tragen. Stefan Andres hat in vergleichsweise kurzer Zeit eine riesige Leserschaft verloren – sicher auch weil seine zaghafte Hoffnung in einer säkularen Gesellschaft kaum mehr geteilt wird.