Eine Familie wie jede andere

„Und jetzt ist Schluss“ heißt es für Ruth Winkler, die Hauptprotagonistin und Erzählerin im gleichnamigen Buch von Christine Lehmann. Ruth ist kürzlich verstorben. Nun blickt sie auf ihren eigenen Lebensweg zurück und erzählt Geschichten, die sie eigentlich nie erzählen wollte.

Ruth ist ein typisches Kind ihrer Zeit: 1930 in Halle geboren, in den Wirren des Dritten Reiches, des Zweiten Weltkriegs und der frühen Nachkriegszeit aufgewachsen. Als Scheidungskind lebt sie bei den Großeltern, das Verhältnis zu den Eltern könnte besser sein. Als Studentin ist sie engagiert und interessiert, bis sie schließlich heiratet und sich völlig unbedarft in die Rolle der Hausfrau und Mutter begibt. Das spätere Verhältnis zu ihren eigenen Kindern ist ebenfalls durchwachsen, eine ehrliche emotionale Nähe lässt sich nur schwer herstellen, da diese Offenheit und die damit verbundene Verletzlichkeit über Jahre hinweg erfolgreich verdrängt wurde, um den Rollenklischees gerecht zu werden.

In „Und jetzt ist Schluss“ entspannt sich aus der Geschichte einer Frau und ihrer Familie ein bescheidenes, aber zugleich beeindruckendes Panorama, in dem sich sehr viele deutsche Familien – zumindest ansatzweise – wiederfinden dürften. So begleiten wir Ruth und ihren Mann in den ersten Ehejahren auf diversen Etappen, die sukzessive zu wirtschaftlichem Wohlstand führen. Das Verhältnis zur Verwandtschaft in Ostdeutschland ist mal besser, mal schlechter. Zu unterschiedlich sind die Lebensrealitäten und Erwartungshaltungen der einzelnen Familienmitglieder beziehungsweise Protagonisten.

Lebensentwürfe im Spannungsfeld der Geschichte

Frauen, die hinter ihren Männern selbstverständlich zurücktreten, Männer, die der ihr von der Gesellschaft zugedachten Verantwortung als Ernährer und Familienvorstand nachkommen sollen. Kinder, die sich nicht verstanden und unterstützt fühlen. Zwischenmenschliches, das distanziert und formell statt liebevoll wirkt. Verwandte und Bekannte mit unterschiedlichsten Positionierungen in einem der dunkelsten Kapitel der deutschen Realgeschichte.

Eine Nachkriegsgesellschaft, die geprägt ist durch ein überaus fragwürdiges Menschenbild und wenig Platz für Individualität lässt. Politische und wirtschaftliche Krisen und Aufschwünge. Der krasse Kontrast der Lebensstandards zwischen der Schweiz, Westdeutschland und Ostdeutschland, die Veränderungen nach der Wiedervereinigung. All diese Faktoren, die das Leben von Ruth Winkler maßgeblich beeinflusst haben, haben auch Einfluss auf jede andere in Deutschland ansässige Familie genommen. Ruth Winklers Lebensgeschichte wirkt somit ein wenig wie die der eigenen Familie.

„Und jetzt ist Schluss“ spricht auf gekonnte Art und Weise das kollektive Gedächtnis an. Die Charaktere werden so gezeichnet, dass die Lesenden einen umfassenden Einblick in die Gefühlswelt und die daraus resultierenden Beziehungen und Verhaltensweisen bekommen. Trotz aller Skurrilitäten und menschlichen Spleens fühlen wir mit, können nachvollziehen und finden uns und unsere Familien vielleicht sogar ein Stück weit wieder. Das Verständnis, das daraus resultiert, kann dabei helfen, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu versöhnen – wenn denn Bedarf besteht …

Mittels einer fiktiven Familiengeschichte ermöglicht Christine Lehmann aber auch einen Schnelldurchlauf durch die deutsche Geschichte der vergangenen 90 Jahre, mitsamt aller Herausforderungen und Chancen. Skurril, bedrückend, nostalgisch und berührend zugleich. Ein Roman, der auf seine ganz eigene Weise guttut.

Christine Lehmann: Und jetzt ist Schluss, Alfred Kröner Verlag 2022, 30 €