Eine große Humanistin und ein beschädigter Grabstein

Anna Siemsen war eine der bedeutendsten deutschen Pädagoginnen des 20. Jahrhunderts, eine engagierte Politikerin und Pazifistin und ihre zahlreichen Bücher zeugen von einer erstaunlich vielfältigen schriftstellerischen Begabung. Für ihre politischen Gegner war und blieb die mutige, selbstbewusste Frau ein ewiges Feindbild. Noch ein halbes Jahrhundert nach Anna Siemsens Tod schossen Unbekannte auf ihren Grabstein.

Ein Familiengrab, irgendwo zwitschern Vögel. Vor der Friedhofsmauer grummelt bisweilen Autolärm. Die verträumte Anlage strahlt ansonsten viel Ruhe aus. Schon lange wird der Osnabrücker Hasefriedhof nicht mehr als Bestattungsort genutzt. Städtische Gärtner sorgen dafür, dass dieses alte Gräberfeld seit Jahren ein Park der stillen Erinnerung geworden ist. Sie pflegen am Ort, um den es hier geht, ein sogenanntes Ehrengrab. Es ist das der gesamten Familie Siemsen.

Der Schriftzug auf dem alten Grabstein mit ihrem Namen ist allerdings stark angegriffen und kaum lesbar. Einschusslöcher aus scharfer Munition und weitere Beschädigungen verteilen sich rund um die einzelnen Buchstaben. Man muss sich nah auf den Schriftzug hinbewegen, um die Lettern und Zahlen auf der porösen Fläche lesen zu können: „Prof. Dr. Anna Siemsen. Geboren am 12.1.1882, gestorben am 22.1.1951“. Das war es schon.

Sollen manche Tote zweimal sterben?

Interessierte haben besondere Mühe, den Nachnamen zu lesen. Hier sind die Einschüsse, womöglich auch zusätzliche Schläge mit Hammer oder Meißel, besonders zerstörerisch gewesen. Professorin Doktor Anna Siemsen. Der Nachname ist besonders heftig von Kugeln durchsiebt. Soll der Name vergessen werden? Eine prominente Stimme eines prominenten Zeitgenossen aus der Geschichte bringt das exakte Gegenteil auf den Punkt: „Eine gebildete, gütige Frau geht durch Europa, wo sie wirklich zu Hause ist“, hatte der Publizist Kurt Tucholsky, Herausgeber der „Weltbühne“, über die hier Beigesetzte geschrieben.

Das Familiengrab im Jahr 2023

Neben Annas Eltern finden sich auf dem Ehrengrab auch die Ruhestätten anderer: Ihre Schwester Paula (1880-1965) ist hier neben deren Mann, dem sozialdemokratischen Mediziner Professor Eskuchen, beigesetzt. Alle Geschwister einte eine sozialistische, antifaschistische und friedliebende Gesinnung, bemerkte bereits eine längst abgeräumte Informationstafel. Friedel Hetling, nach 1945 SPD-Landtagsabgeordneter, zu eigenen Juso-Zeiten in der Weimarer Republik großer Verehrer der sozialistischen Lehrerin und Professorin, später Leiter der Bundesschule der IG Metall, hatte sich 1951, unmittelbar nach ihrem Tode in Hamburg, erfolgreich für die Beisetzung Anna Siemsens in dem Familiengrab engagiert.

Wer war diese engagierte Frau? Ihre Vita berichtet über erstaunliche Stationen und Leistungen: Aufgewachsen war Anna als zunächst eher kränkelndes Kind in einer Pastorenfamilie, deren männliches Oberhaupt als äußerst konservativ galt. Ungewöhnlich waren vor allem die drei Brüder Annas, die – wie sie – allesamt überzeugte Sozialisten wurden. Bruder Hans, beigesetzt auf Annas Grabseite, zählt völlig zu Unrecht zu heute vergessenen Literaten. Er war ein engagierter, bekennend homosexueller Schriftsteller, ein Autor vielgelesener Bücher, der auch für die „Weltbühne“ schrieb und in Häusern berühmter Literaten ein- und ausging.

1920 erschienen Hans Siemsens Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg.

In der Hauptstadt Berlin bestattet ist allein Annas Bruder August (1884-1958): Er war ebenfalls Politiker, Publizist, Pädagoge und zeitweise SPD‐Reichstagsabgeordneter. Hinterlassen hat er eine einfühlsame Biografie seiner Schwester. Dritter Bruder im Bunde war Karl (1887-1968), Jurist und ebenfalls SPD‐Politiker. Von 1956 bis 1958 sollte er es immerhin zum nordrhein‐westfälischen Landesminister für Bundesangelegenheiten bringen. Auch er ruht im Osnabrücker Familiengrab.

Wie ihre Brüder durchlebte die einst wohlbehütete Pastorentochter später ein eher unbeheimatetes Dasein. Sie wohnte unter anderem in Hamm, in München, Münster, Bonn, Detmold und Düsseldorf, zwischendurch immer wieder kurz in Berlin und Jena, später in der Schweizer Emigration, zuletzt in Hamburg. Osnabrück bildete für Anna und ihre Geschwister den Rückzugsort für einen regen familiären Austausch, bei dem Tagespolitik und Programme, aber auch die Visionen für eine künftige sozialistische Gesellschaft eine grundlegende Rolle einnahmen.

Anna Siemsens Vision einer klassenlosen Zukunftsgesellschaft spiegelt sich in ihrer akademischen und beruflichen Laufbahn. Anna studierte Germanistik, Philosophie und Latein. 1909, damals für Frauen äußerst selten, promovierte sie und wurde Gymnasiallehrerin. Im Zuge des demokratischen Aufbruchs wirkte sie danach als Beigeordnete für das berufliche Schulwesen in Düsseldorf. 1923 wurde sie, für Frauen noch seltener, Honorarprofessorin im thüringischen Jena.

Linke Sozialdemokratin und Hassobjekt der Rechten

Schon früh betätigte sich Anna Siemsen in der Sozialdemokratie und wirkte an vielen linken Publikationsreihen mit. Von 1928 bis 30 war sie überdies SPD-Reichstagsabgeordnete und erlebte die am Ende gescheiterte, letzte SPD-geführte Reichsregierung Hermann Müllers. Zeitlebens betätigte sie sich als unermüdliche Kämpferin für eine Pädagogik, die von den Grundsätzen von Selbstbestimmung und Chancengleichheit bestimmt war. Nebenher verfasste sie vielbeachtete Standardwerke: Ein „Buch der Mädel“ wie eines über Goethe, eine Einführung in den Sozialismus, Abhandlungen über Medienkunde, aber auch eines über Literatur in Europa zählen zu ihrem Lebenswerk.

Anna Siemsen blieb zeitlebens ein Hassobjekt von Rechten. Sie verabscheuten eine Frau, die laut war, statt sich in Männerdomänen unterzuordnen. Betuchte Reaktionäre verschmähten sie, weil sie Anwältin von Arbeiterkindern war, die keine Chance auf höhere Bildung besaßen. Deutschtümelnde Akademiker stellten sie schon früh als engagierte Kämpferin gegen Krieg, Rassismus und Nationalismus an den Pranger. Kein Wunder – aus deren Sicht: In politischen Reden, Büchern und zahllosen Aufsätzen ließ Anna Siemsen keine Gelegenheit aus, vor dem Faschismus und einer Regierungsübernahme der NSDAP zu warnen. Die Gegenseite blieb deshalb nicht untätig. Fast konsequent war es, dass die rote Professorin bereits vor 1933 ein Opfer der ersten Berufsverbote gegen missliebige Linke wurde. Denn bereits 1932 verlor Anna unter einem faschistischen Kultusminister ihre Professur im Reichsland Thüringen, in dem Angehörige der Nazi-Partei, als Teil einer Koalition mit bürgerlich-konservativen Kräften, schon vor der Berliner Machtergreifung Ministerposten bekleideten.

Anna Siemsen

Unablässig trat Siemsen in Reden und Aufsätzen weiter gegen die braune Gefahr auf. Wie ihre gleichgesinnten Bündnispartner stritt sie leidenschaftlich in Wort und Schrift für eine einheitliche Antwort der zerstrittenen Arbeiterbewegung gegen den Nationalsozialismus als deutscher Spielart des internationalen Faschismus. Ihr Name zierte somit schnell die Listen jener Persönlichkeiten, die aus Nazi-Sicht schnellstmöglich menschlich und politisch ausgeschaltet werden sollten.

1933 musste die Sozialistin vor den NS-Machthabern in die Schweiz fliehen, wo sie zurück zur Sozialdemokratie fand und sich erneut politisch und pädagogisch betätigte – nicht ohne immer wieder deutlich vor Nazis und Kriegsgefahr zu warnen. Im schweizerischen Exil war sie überdies gezwungen, eine Scheinehe mit einem eidgenössischen Sozialdemokraten einzugehen, um nicht gleich wieder an die Nazis ausgeliefert zu werden. Eine Überstellung an die Gestapo hätte ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben gekostet.

Vielfältiges literarisches Erbe und zeitlose Botschaften

Beim Studium ihrer zahllosen Buchtitel fällt dem heutigen Betrachter auf, wie alt und betagt die Werke rein äußerlich wirken. Keines davon wurde nach Annas Tod neu aufgelegt. Wieso eigentlich? Textauszüge ihres Lebenswerks belegen eine ungeheure Weitsicht und analytische Schärfe. Dies belegt nicht zuletzt jener Doppelsatz, mit dem Anna in ihrer Schrift „Erziehung im Gemeinschaftsgeist“ bereits 1921 kurz und prägnant ihr Verständnis menschlicher Bedürfnisse auf den Punkt brachte:

Der Mensch braucht Nahrung, Kleidung und Wohnung und muss sich diese herstellen können. Er braucht darüber hinaus Licht, Luft, Sonnenschein, Sauberkeit und Bewegung; er braucht Schönheit und Erkenntnis, Tätigkeit und menschliche Gemeinschaft.

Wenige Zeilen, alles gesagt, dürfen wir denken. Das nächste Zitat entstammt der gleichen Quelle und könnte als Untertitel zu medialen Börsenberichten oder quälenden Talkshows mit neoliberalen Weltverbiegern erscheinen, die den Kapitalismus zur Endphase der Menschheitsgeschichte machen möchten:

Der Bürokrat, der seine Pflicht von 9‐3 Uhr und nichts darüber hinaus tut, der Bankier, der nur noch seinen Börsenb-richt kennt und dem eine glückliche Spekulation der Inbegriff segensreicher Tätigkeit ist (…), sie alle sind durch unsere unselige Berufsspezialisierung und Isolierung hervorgerufen, sie alle bedrohen unsere Gesellschaft (…).

Aufschlussreich ist auch das Folgezitat. Es behandelt Annas Domäne, die Schulpolitik. Stellen wir uns die überzeugte Sozialistin in einer brandaktuellen Tagesthemen-Sendung vor, die über neue PISA‐Studien berichtet. Über Erhebungen mit der wiederholten Erkenntnis, dass unser dreigliedriges Schulsystem es im internationalen Vergleich einfach nicht zustande bringt, Benachteiligte zu fördern und das stattdessen immer wieder alte Sozialstrukturen zementiert. Was schrieb Anna Siemsen?

Unsere Schulen sind – wie alle Schulen es sein müssen – ein getreues Spiegelbild heutigen Lebens überhaupt. Sie bewerten die Begabung und den Erfolg. Sie stacheln die Kinder durch äußere Mittel, durch Zeugnisse über ihre Leistungen künstlich zur Arbeit an und setzen sie in einen Wettbewerb mit den Kameraden, der Eifersucht, Ehrgeiz und Neid, alle antisozialen Triebe, erregt und stärkt: Sie scheiden schon die Kinder nach Stand und Vermögen, verhindern das gegenseitige Kennen‐ und Verstehenlernen.

Damit keine Missverständnisse auftreten: Annas Aussagen stammten von 1918 (!) und erschienen damals in der Schrift „Die Tat“. Was würde die Genossin Siemsen heute wohl zum vielkritisierten „Bulimie‐Lernen“ in Schulen und Hochschulen sagen? Über die makabre Praxis, Stoff in Mengen hinein zu futtern, sich prüfen zu lassen, danach alles auszukotzen und für immer zu vergessen? Auch hier gab Professorin Siemsen – zitiert von Cornelia Carstens in der Publikation „Berlinische Monatsschrift“ (Heft 2/2001) – zu Lebzeiten eine hochaktuelle Antwort:

Ob es irgendein Mensch betrauern wird, dieses Konversationslexikonwissen, das unsere Examina jetzt feststellen? Wir würden etwas anderes erhalten. Mehr Freiheit menschlicher Entwicklung, mehr Wahrheit und Selbstbescheidung. Und mehr Glück bei Lehrern und Kindern.

Professorin in Hamburg

Nach Krieg und Befreiung sollte es Anna Siemsen vergönnt sein, weitere wichtige Spuren zu hinterlassen. 1946 war sie ins befreite Deutschland zurückgekehrt und half in der zerstörten Elbmetropole führend dabei mit, das Hamburger Schulsystem aufzubauen. Bis 1951 lehrte sie als Professorin an der Universität Hamburg, die 2005 den großen Hörsaal der Fakultät für Erziehungswissenschaft nach ihr benannte, und blieb zu Lebzeiten eine gefragte Rednerin. Schon früh engagierte sie sich für die europäische Einigung.

1928 publizierte Anna Siemsen ihr programmatisches Buch „Daheim in Europa“.

Sie fand den Tod aufgrund eines verschleppten Infekts. Bereits gesundheitlich angeschlagen hatte sie es sich einfach nicht nehmen lassen wollen, einen engagierten Vortrag vor Mitgliedern der Sozialistischen Jugend Deutschlands zu halten und junge Menschen von der Idee des Demokratischen Sozialismus zu überzeugen. Am Ende fehlte ihr die Kraft, die Folgen ihrer schweren Erkrankung auszukurieren.

Menschen sterben, klar. Selbst verwitterte Grabsteine lassen sich zerstören, wenn Feinde von humanitären Ideen ihren Hass ausleben möchten. Anna Siemsens Zielvorstellungen aber, ihre Analysen und persönlichen Grundhaltungen, bleiben Botschaften. Nicht für einen alten stillgelegten Friedhof, sondern für die Überwindung einer längst überkommenen Klassengesellschaft zugunsten eines Gemeinwesens, das der Demokratie, Gleichheit und Solidarität verpflichtet ist.