Eine Stadt des Anfangs, eine Stadt des Endes

Die französische Autorin Hélène Cixous hat drei Bücher geschrieben, die in Osnabrück spielen. Diese Texte sind allerdings keine lokalpatriotische Hommage – sie eröffnen größere Zusammenhänge, für die die Stadt in Niedersachsen nur der historische Kristallisationspunkt ist. Ein Spaziergang.

Kann man sich Erinnerung erlaufen? Vielleicht ja – mit dem richtigen Werkzeug, einer Route jenseits der eingeschliffenen Strecken und einem Auge für das scheinbar Nebensächliche, Unerhebliche. Ein solches Werkzeug kann die Psychogeografie liefern, ein Konzept, das in der künstlerischen Avant-Garde der 1950 Jahre um den Situationisten Guy Debord seine Wurzeln hat.

Die in Deutschland noch weitgehend unbekannte Psychogeografie macht unter anderem bewusst, „dass Raum nicht einfach gegeben oder „neutral“ ist: Als Produkt sozialer Beziehungen kommt ihm eine Wirkmacht zu, die unheimlich erscheinen kann“ (Lubkowitz: Psychogeografie, S.12). Diese Beziehungen erstrecken sich nicht nur in der Gegenwart, sondern ragen auch tief in Vergangenheit und Zukunft hinein. Jeder Ort ist eine Schichtung von Erzählungen durch die Zeiten hindurch.

Cixous‘ Osnabrück

Dies trifft auch auf die norddeutsche Stadt Osnabrück zu, so wie sie die französische Autorin Hélène Cixous (*1937) in ihren drei Büchern „Osnabrück“ (1999, dt. 2017), „Benjamin nach Montaigne“ (2001, dt. 2008) und „Osnabrück Hauptbahnhof nach Jerusalem“ (2016, dt. 2018) beschreibt. Cixous begibt sich darin auf die Spuren ihrer Mutter Eva (Ève) Klein, die schon 1930 wegen des sich ausbreitenden Antisemitismus die Stadt verließ. 1985 wurde Eva Klein dann von der Stadt als eine von nur noch sieben überlebenden Jüd*innen zurück nach Osnabrück eingeladen – und nahm nach längerem Zögern die Einladung an.

Hélène Cixous im Jahr 2011

Ihre Tochter besuchte die Stadt erst nach dem Tod ihrer Mutter, war aber im Geiste von frühester Kindheit an dort gewesen – der Klang des Wortes „Osnabrück“ durchzieht ihre Erinnerung. So kam Osnabrück in die Küstenstadt Oran, wo Hélene Cixous bis 1955 aufwuchs, bevor sie nach Frankreich zog: Es hat für sie „eine Zeit gegeben […], meine Kinderzeit im Oran, in der ein Deutschland in Algerien weilte: das Deutschland der Geflüchteten, der Flüchtlinge“ (Cixous/Wajsbrod: Autobiografie, S.16).

Der Blick durchs Schlüsselloch der Fiktion

Schreiben über eine Stadt, die man nur aus Erzählungen kennt: Cixous spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Zaubertür von Osnabrück: was mich an dieser Tür anzieht, ist das Schlüsselloch: eine Entwendung des Schlosses zugunsten der Vision. Die Schließung gibt das Offene“ (Cixous: Osnabrück, S.19). Nimmt man Cixous‘ Bücher zur Hand und durchläuft mit ihnen Osnabrück, kann sich genau dieser visionäre Effekt einstellen: Bilder scheinen durch das Gesehene hindurch, lassen auf eine Vergangenheit blicken, die in der selbsternannten Friedensstadt trotz aller Erinnerungsarbeit manchmal verborgen bleibt, und geben im Spiel von Fiktionalität und Faktizität der Stadt genau den emotionalen Klangraum, nach dem die Psychogeografie sucht.

Dabei ist bemerkenswert, wie gut das auch in einer verhältnismäßig kleinen Stadt funktioniert. Osnabrück hat aktuell circa 165.000 Einwohner und ist damit nominell eine Großstadt. Jedoch ist diese Zahl nichts gegen die Einwohner Berlins, Paris oder Londons – der Städte, die bisher im Fokus der Psychogeografie lagen. Cixous‘ Bücher zeigen also auch, wie sich an kleinen Orten und in individuellen Erzählungen die sogenannte „große“ Geschichte widerspiegelt.

Es mag hier während des Nationalsozialismus kein Ghetto gegeben haben. Aber es gab „Judenhäuser“: Miniaturghettos, in denen die Juden in Osnabrück vor dem Abtransport in die Todeslager gesammelt wurden. Eines davon war in der Kommenderiestraße 11. Heute ist hier eine Lücke – immerhin. Kein neues Haus, das die Erinnerung überschreibt. Aber auch nicht das alte Haus, das sie bewahrt. Oder eine Gedenktafel, die sie festzuhalten versucht. Denn das Vergangene drängt auch immer in die Gegenwart, trotz der stetigen Versicherung „nie wieder“.

Das zeigt ein unauffälliger Aufkleber, der – im Gegensatz zu einer Gedenktafel – in der Nähe des Ortes zu finden ist. Ein rechtsradikaler Slogan, der sicherlich durch Zufall gerade hier gelandet ist, der aber in Verbindung mit dem Wissen, das Cixous‘ Osnabrücker Psychogeografie vermittelt, mehr als nur Unbehagen aufkommen lässt.

Babylon Osnabrück

Zukunft kann dagegen durch die Augen der in Algerien geborenen deutschstämmigen Französin Cixous an einem ganz anderen Ort entdeckt werden. An einem, an dem man es ohne diese Perspektivenverschiebung vielleicht gar nicht erwartet: der Johannisstraße. In der Stadt aufgrund der ewigen Baustelle und des heruntergekommenen Zustands in Verruf geraten liegt doch genau hier die Mehrsprachigkeit, die für Cixous‘ Denken so zentral ist. So schreibt sie: „Schon recht lange bin ich für die Zweisprachigkeit als Minimalsprache. Mindestens zwei. Und man sieht die Welt anders.“ (Cixous/Wajsbrod: Autobiografie, S.87).

Ein Restaurant wie „Levante“ – wörtlich „Morgenland“, vom Lateinischen „levare“, „emporheben, aufgehen“ erinnert in diesem Kontext natürlich vor allem an die Region, in der auch das heutige Israel liegt. Osnabrück wird so „Vorname von Jerusalem und Kalkutta, o Babylon“ (Cixous: Osnabrück Hauptbahnhof, S.85f.), zur Stadt in einem dichten emotionalen Netzwerk von anderen Städten. Greift man diese Impulse in Vergangenheit und Gegenwart auf, wird die Stadterkundung anhand Cixous‘ Büchern zum auf ewig unabgeschlossenen Projekt, das immer neue Ideen und Bezüge generiert.

Warum nicht Osnabrück mal mit dem Stadtplan von Oran erkunden und Algerien in Niedersachsen entdecken und umgekehrt? Oder mit einer Stadtkarte von 1934, die einen auch am „Adolf-Hitler-Haus“ vorbeiführen würde, der heutigen Villa Schlikker, in der die Parteizentrale der NSDAP war? So kann jeder dieser Gänge zu dem werden, was ebenfalls Ziel der Psychogeografie ist: Akte der Subversion, die die „offiziellen Repräsentationen einer Stadt herausfordern, indem sie etablierte Routen quer durchschneiden und die marginalen und vergessenen Gegenden erforschen, die oft von der Bevölkerung einer Stadt übersehen werden“ (Coverley: Psychogeography, S. 12).

 

Audiowalk mit Hélène Cixous
Zwei mögliche Anleitungen für solche Spaziergänge durch die Stadt bieten die auf Cixous‘ Osnabrück-Büchern basierenden Audiowalks „So sehr sah ich, dass kein Schnee lag“ und „Alles was ich hier schreibe ist vielleicht war“. Diese sind bis zum 30. Juni 2022 auf der folgenden Seite abrufbar ➤ www.digiwalk.de.