Teil 2 unserer kleinen Bildpostkarten-Reihe über Frauenbilder des deutschen Kaiserreichs führt uns eine Ideal vor Augen, das schon vor über 100 Jahren längst nicht von allen Bürgerinnen und Bürgern geteilt wurde.
Das eigentliche Frauenideal der Kaiserzeit ist die liebenswerte Mutter, die sich fürsorglich um Haus und Kinder kümmert, die Familie zusammenhält und dabei immer gut und gepflegt aussieht. Sie ist die Seele der Familie.
Hier hat der Fotograf sie mit ihren beiden heranwachsenden Töchtern in einem Salon abgelichtet, der von einem Kamin offenbar angenehm erwärmt wird. So wünscht man sich in Bürgerkreisen ein glückliches Familienleben! Die Frau hat an einem mächtigen Flügel Platz genommen und ist dabei, mit den beiden Mädchen ein Lied einzustudieren. Diese halten sich eng an sie und tragen ebenso wie sie seidig schimmernde, fließende, pastellfarbene Gewänder. Dekorative Bänder schmücken das offene Haar.
Sie wollen gemeinsam singen, und zwar ein kleines, bezauberndes, von Felix Mendelssohn komponiertes und von Heinrich Heine verfasstes Frühlingslied, dessen Anfang am oberen Bildrand abgedruckt ist. Die Noten für die Klavierspielerin stehen bereit, und das jüngere Mädchen schaut schon prüfend in ihren Part.
Das gemeinsame häusliche Singen und Musizieren steht im Vordergrund der Abbildung und ist bezeichnend für den Status einer bürgerlichen Familie der Zeit. Das Bild zeugt von Intimität und gegenseitiger Vertrautheit der drei Menschen zueinander, eine Haltung, die der Fotograf sichtlich als Kern eines höchst erstrebenswerten Zusammenlebens darstellen wollte.