Fidelios ältere Schwester

„Leonora“ war früher auf der Bühne, doch gegen ein Jahrhundertwerk hatte Ferdinando Paërs Oper keine Chance. Ein Fall für Alessandro De Marchi, der bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik 2020 ein Meisterwerk aus langer Versenkung holte.

Kein Komponist, der einen Blick in die Partitur geworfen oder Ferdinando Paërs „Leonora“ (1804) auf der Bühne gesehen hatte, konnte ernsthaft auf den Gedanken kommen, zeitnah eine Oper gleichen Inhalts zu schreiben. Doch der Stoff lag im Geist der Zeit und Ludwig van Beethoven war ohnehin fest davon überzeugt, dass seine Version der tapferen Ehefrau, die ihrem von Tyrannenwillkür bedrohten Gatten das Leben rettet, jedem Vergleich standhalten würde. Obwohl er die ein Jahr zuvor entstandene „Leonora“ durchaus schätzte und außerdem die Partitur besaß.

Der Selbstbewusste behielt Recht. „Fidelio“ stellte Paërs Oper in den Schatten der Musikgeschichte – und die Versuche von Pierre Gaveaux und Simon Mayr, die Jean Nicolas Bouillys Vorlage „Léonore ou l´Amour conjugal“ (1798) ebenfalls vertont hatten, sowieso.

Unter diesen Umständen war es wohl folgerichtig, „Leonora“ ausgerechnet im Beethoven-Jahr 2020 wieder zurück ins Rampenlicht zu holen. Es dürfte allerdings nicht das letzte Mal gewesen sein, denn die Erstaufführung auf der Grundlage der historisch-kritischen Neuausgabe von Christian Seidenberg stellte nicht nur die außergewöhnlichen Qualitäten des handwerklich brillanten und endlos einfallsreichen Opernkomponisten Ferdinando Paër unter Beweis.

Seine „Leonora“ markiert überdies einen frühen, melodienseligen und koloraturbegeisterten Höhepunkt der Belcanto-Kultur und ein reizvoll-schlankes, dramaturgisch geschlossenes Gegenstück zum kantigen, künstlerisch und politisch so ambitionierten „Fidelio“. Denn auch wenn es zu einigen Überschneidungen kommt, zeigen die Rettungsopern doch auf faszinierende Weise, wie man sich ein- und demselben Thema aus völlig unterschiedlichen Perspektiven nähern kann.

Die Einspielung ist das Ergebnis einiger weniger Aufführungen, die im August 2020 – coronabedingt halbkonzertant – im Rahmen der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik stattfanden. Die Solopartien sind bei Eleonora Bellocci (Leonora/Fedele), Renato Girolami (Rocco), Marie Lys (Marcellina), Luigi De Donato (Gioacchino), Carlo Allemano (Don Pizarro) und Krešimir Špicer (Don Fernando) in den besten Händen. Für besondere Momente sorgt Paolo Fanale (Florestano), dessen frischer Tenor nicht nur für die heldenhafte Aufwallung, sondern auch für die gebrochenen Zwischentöne eines verzweifelten, zermürbten Gefangenen taugt.

Alessandro De Marchi erweist sich als Intendant des Festivals, vor allem aber am Pult des Innsbrucker Festwochenorchesters einmal mehr als leidenschaftlicher und elektrisierender Anwalt unbekannter Werke. Von der fulminant inszenierten Ouvertüre bis zum grandiosen Finale des 2. Aktes hält er die Spannung auf hohem Niveau.

Ferdinando Paër: Leonora, 2 CDs, cpo