Flucht aus dem Drohnenleben

Aufgelesen (14): Liesbet Dills Roman „Virago“.

Am liebsten möchte sie Medizin studieren, mindestens aber die Handelsschule besuchen. Doch Friederikes Vater will von ihren „planlosen Ideen“ nichts wissen. Er schickt sie auf ein Mädchenpensionat.

Zwar gelingt es der unangepassten Tochter nach einiger Zeit, dem Bildungsinstitut zu entkommen, das ihr ein rollenadäquates Verhalten anerziehen will. Doch der Kampf gegen die Mehrheitsgesellschaft ist damit noch lange nicht beendet und führt zu immer schwereren persönlichen Verlusten.

Friederike scheitert mit einem landwirtschaftlichen Gemeinschaftsprojekt, zwei Verlobungen platzen und auch als Nachfolgerin des großindustriellen Vaters hat sie keine realistische Chance. Sie wird Opfer einer Expressung und landet wegen Totschlags vor Gericht. Die junge Frau, die als „Großer Kurfürst“ und „Virago“ (Mannweib) verspottet wird, ist nun völlig auf sich allein gestellt. Nach einer halben Weltreise strandet sie an den Spieltischen von Monaco, lässt sich auf eine letzte verzweifelte Annäherung ein, ehe sie in die Heimat zurückkehrt, um ihrem Leben ein Ende zu setzen.

Endloses Schreiben

Lisbet Dill (1877-1962) gehörte zu den schreibfreudigsten deutschen Autorinnen des 20. Jahrhunderts, die Tochter eines gutbetuchten Guts- und Brauereibesitzers brachte mehr als 100 Romane, Erzählungen und Jugendbücher zu Papier. Dill blieb den Denkmustern ihrer großbürgerlichen Herkunft zeitlebens verhaftet, entwickelte als Bewohnerin einer umkämpften Grenzregion aber eine bemerkenswert ambivalente und ausgewogene Sicht auf die Interessen von Deutschen und Franzosen, die u.a. ihren 1917 veröffentlichen Erfolgsroman „Die Spionin“ auszeichnet. Vor fatalen politischen Irrtümern war Dill deshalb allerdings nicht gefeit, wie ihr führerbegeistertes Buch „Wir von der Saar“ (1934) beweist.

Ihre literarischen Analysen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen sind gleichwohl bemerkenswert, wie vor allem das 1913 erschienene Buch „Virago. Roman aus dem Saargebiet“ zeigt. Er entwirft ein fesselndes Panorama deutscher und saarländischer Industriegeschichte – mit dem Schwerpunkt auf den Streikbewegungen der Bergarbeiter, die seit 1889 für Aufsehen sorgten.

Rote Dünste glühten am Horizont, düster wie Blut und Gold. Ein Zug dunkelvioletter Wolken stand über den Hochöfen, ein Bild wie der Kampf von Zentauren über einem fallenden Vulkan.

In diesem Spannungsfeld nimmt ein Drama seinen Lauf, dessen Konflikte autobiografisch inspiriert waren. Auch Liesbet Dill brach – allerdingst erst nach der Eheschließung – aus der Beziehung mit einem ungeliebten Mann aus und nahm den Konflikt mit dem unbeugsamen Vater in Kauf, um ihre persönliche und künstlerische Freiheit wiederzuerlangen.

In „Virago“ schildert Dill den Versuch eines selbstbestimmten Lebens eloquent und unterhaltsam, mit inneren Monologen und allerlei Versatzstücken aus der Alltagskultur. Sie bleibt stets empathisch, blickt aber unbestechlich auf Stärken und Schwächen ihres Personenarsenals, auf fehlendes Mitgefühl und die mangelnde Solidarität, die eine Emanzipationsbewegung verhindert.

Diese Frauen, die zur Streikzeit im Saargebiet lebten und nicht einmal wussten, weshalb die Bergleute streikten, die keinen Bergmann von einem Bauern zu unterscheiden mussten, denen es gleichgültig war, ob bei den heftigen Wahlkämpfen der Kandidat der Nationalliberalen oder der des Zentrums siegte und deren Gespräche sich am liebsten mit Kindern, Küche, Kleidern und Regimentspersonalien beschäftigten, schienen ihr so wenig bedeutend, dass es ihr gar nicht in den Sinn gekommen wäre, über ihr Benehmen nachzudenken.

Einseitige Charaktere sind ihre Sache nicht und so gelingt Dill ein aussagekräftiger Querschnitt durch das wilhelminische Kaiserreich, dessen Repräsentanten – Industrielle, Offiziere und Arbeiter – offenkundig ganz eigene, einander widersprechende Ziele verfolgen. Der Kampf der Geschlechter wird so immer wieder zu einem erbitterten Streit gesellschaftlicher Gegensätze, der mit dem Ende dieses noch immer lesenswerten Romans noch lange nicht beigelegt ist.

Aus dem riesigen Ouevre der Liesbet Dill ist nur „Virago“ in einer Ausgabe von 2005 im Buchhandel erhältlich. Alle anderen Werke sind bestenfalls noch in Antiquariaten und Bibliotheken greifbar.