Flucht aus der Staubschüssel

Sie widmete sich demselben Thema wie ein weltberühmter Autor – mit der Folge, dass ihr Roman mehr als sechs Jahrzehnte auf seine Veröffentlichung warten musste. Jetzt endlich erscheint Sanora Babbs „Whose Names Are Unknown“ in deutscher Übersetzung.

Oklahoma in den 1930er Jahren: Auch die Familie Dunne ist dem Lockruf der amerikanischen Regierung gefolgt und bewirtschaftet ein Stück Land in den Great Plaines, damit es wenigstens ihre Kinder einmal besser haben. Doch die Rodung des Präriegrases, an dessen Stelle nun Weizen angebaut wird, führt zu einer ökologischen Katastrophe. Verheerende Dürreperioden und gewaltige Staubstürme machen die Ernten zunichte und treiben die kleinen Farmer erst in die Abhängigkeit von Großgrundbesitzern und Banken und anschließend in den Ruin. Viele von ihnen machen sich auf den Weg über die später legendäre Route 66, um in Kalifornien noch einmal von vorne anzufangen. Aber im vermeintlichen Paradies wartet schon die nächste Enttäuschung.

Dass diese historischen Ereignisse den Hintergrund eines Welterfolgs bilden können, wissen wir durch den Roman „The Grapes of Wrath“ (1939), der John Steinbeck den Durchbruch, den Pulitzer-Preis und schließlich den Nobelpreis bescherte. Die Familie Dunne spielt allerdings die Hauptrolle in der fast zeitgleich entstandenen Geschichte „Whose Names Are Unknown“, an welche die junge Schriftstellerin Sanora Babb große Hoffnungen knüpfte. Schließlich hatte sie bereits einen Vertrag bei dem renommierten Verleger Bennett Cerf unterschrieben. Doch der fühlte sich nicht mehr an sein Wort gebunden, als er feststellte, dass Steinbeck an demselben Thema arbeitete. Wie so oft in der Literaturgeschichte blieb für die Frau nur der Platz in der 2. Reihe. „Whose Names Are Unknown“ erschien erst 2004, ein Jahr später starb Sanora Babb.

Dass der Roman mittlerweile international rezipiert wird und nun endlich auch in deutscher Übersetzung vorliegt, hat allerdings nichts mit verspäteter Wiedergutmachung zu tun. Die wäre ebenso müßig wie die Frage, ob Steinbeck tatsächlich Notizen seiner Kollegin ausgewertet hat und welcher Roman am Ende der „bessere“ ist. Viel bedeutsamer als das Hadern mit Versäumnissen der Vergangenheit und Leistungsvergleichen der Nachgeborenen ist der Umstand, dass wir uns mit einem herausragenden Text beschäftigen können, der eine soziale und ökologische Katastrophe in bedrückenden Nahaufnahmen schildert.

Sanora Babb hat das Drama der „Dust Bowl“ selbst erlebt, ihr Roman ist dadurch in hohem Grade empathisch, doch Klischees und Sentimentalitäten sind ihr völlig fremd. Nüchtern und präzise beschreibt sie das Schicksal der Familie Dunne und ihrer Leidensgenossen, die harte, den Körper zermürbende Arbeit, die immer neuen Hoffnungen und Enttäuschungen, den sozialen Abstieg, Ausgrenzung und Diskriminierung, Gewalt, Hunger, Verzweiflung und – immer wieder – bedrückende räumliche Enge.

Wenn fünf Menschen in einem einzigen Raum aßen, schliefen und rein und raus liefen, roch und sah man dort das überquellende Leben, mehr Leben, als er fassen konnte, und einiges davon schwappte über und wurde zu einer unbestimmten, obszönen Intimität.

Bemerkenswert ist die Schärfe der Gesellschafts-, Sozial- und Religionskritik, die sich hinter Steinbecks Attacken auf ein ausbeuterisches, korruptes und bigottes System nicht zu verstecken braucht. Jesus, so lässt Sanora Babb sinnieren, habe sich doch eigentlich gar nicht geopfert, um die Menschen vor der ewigen Verdamnis zu retten. Er sei „wegen seiner Ideen ermordet, ja, regelrecht gelyncht worden, (…)“.

Die Autorin interessiert sich nicht für mythologische Ausdeutungen, sondern für die menschengemachte Realität und ihre Zusammenhänge. Auf eben dem Boden, auf dem die neuen Siedler einst indigene Völker ermordeten und die großen Bisonherden ausrotteten, vernichten die Farmer die natürlichen Lebensgrundlagen – ungeachtet der Tatsache, dass sie damit auch ihren eigenen Untergang heraufbeschwören. Das von Sabine Reinhardus – abgesehen vom etwas sperrigen Titel „Namen unbekannt“ – schnörkellos übersetzte Buch wird damit zu einem weiteren frühen und in jeder Hinsicht bemerkenswerten Beispiel für das zuletzt viel diskutierte „Nature Writing“.

Sanora Babb setzt aber auch dem unbändigen Lebenswillen und der Fähigkeit zum solidarischen Handeln ein Denkmal. „Whose Names Are Unknown“ erzählt von starken Frauen, mutigen Kindern und aufopferungsvollen in- und ausländischen Migranten, die sich weder durch ihre entmutigende Situation, noch durch bezahlte Schlägertrupps, Streikbrecher oder Spitzel gegeneinander aufhetzen lassen.

Eines jedoch blieb ihnen, so klar und vollkommen wie ein Regentropfen – das verzweifelte Bedürfnis wie ein Mann zusammenzuhalten. Sie würden sich erheben und zu Fall kommen und sich im Fallen neu erheben.

Sanora Babb, Namen unbekannt, Reclam, 25 €