Flucht ins Verderben

Aufgelesen (5): Alice Schwarz-Gados´ Roman „Schiff ohne Anker”

Im Dezember 1941 verließ das Frachtschiff „Struma“ die rumänische Hafenstadt Constanta, um rund 800 jüdische Flüchtlinge nach Palästina zu bringen. Nur ein einziger Passagier überlebte die Reise.

Die „Struma“ war über 60 Jahre alt, baufällig und hoffnungslos überladen. Eine Katastrophe hätte dennoch vermieden werden können, denn das Schiff lag bereits im Hafen von Istanbul, als britische und türkische Behörden begannen, über sein Schicksal zu verhandeln. Die einen wollten einen längeren Aufenthalt am Bosporus verhindern, die anderen die Weiterreise nach Palästina blockieren.

Im Februar 1942 wurde die Struma wieder auf das offene Meer geschleppt und dort vom Torpedo eines sowjetischen U-Bootes getroffen. Mit Ausnahme des 19-Jährigen David Stoliar starben sämtliche Passagiere und Besatzungsmitglieder.

Die Vorgeschichte einer Katastrophe

Dem tödlichen Ende dieser Reise widmet Alice Schwarz-Gados in ihrem 1960 erschienenen Roman nur wenige Seiten. „Schiff ohne Anker“ konzentriert sich auf die Vorgeschichte und erzählt vom Rassenwahn der Nationalsozialisten, durch den Millionen Menschen in Europa vertrieben, entrechtet und ermordet werden. Es geht aber auch um das Versagen vermeintlich zivilisierter Länder, die den Verbrechen lange tatenlos zusehen – und vor allem um den verzweifelten Versuch, in einer barbarischen Zeit so etwas wie Anstand, Würde und Menschlichkeit zu bewahren.

Schwarz-Gados, die Europa 1939 selbst unter dramatischen Umständen verlassen musste, entwirft Figuren mit klarem Profil und kompliziertem Innenleben: Den „halbjüdischen“ Pädagogen Fritz Schulhoff, der nicht mehr Sohn seines Vaters und auch kein Lehrer mehr sein möchte; die Freundinnen Rachel und Lea, die nicht nur physisch, sondern auch frei und selbstbestimmt überleben wollen; die Aufseherin Esther Wolf, der „die Sklaverei des Gefühls und des Gehorsams“ ein Bedürfnis geworden ist, das alles Verlorene ersetzen kann.

Mit viel Empathie zeigt Schwarz-Gados die individuellen und sozialen Verwerfungen, welche die extreme Lage mit sich bringt. So etwa, wenn die tägliche Wäsche symbolische Züge annimmt:

Damit unterstrich man, daß man nicht in einem KZ war, noch gewisse Freiheiten hatte und auf die Gebärden der Gesittung nicht verzichten wollte. Man hielt an ihnen fest in einer Welt, die alles andere als gesittet war, die einen ausstieß und vernichten wollte; und damit sagte man gleichsam zu jedem neuen Morgen: Und trotzdem, sie bewegt sich doch …

„Engel mit Feuerschwert und Pensionsberechtigung“

Im Licht der neuen Tage entdeckt die Autorin aber auch, wie manche Flüchtlinge in unbewusster Selbstverteidigung Denk- und Handlungsmuster ihrer Peiniger übernehmen:

Merkwürdig, dachte Rachel, daß die Verfolgten und Geächteten in ihrem schwimmenden Gefängnis so etwas wie einen Abklatsch jenes autoritären Staates schufen, der die Ursache ihres Unglücks war. Europa war vergiftet vom Führerkult, nicht einmal die Opfer konnten sich dem Bazillus ganz entziehen, (…).

Wenn dann auch noch Staatsbedienstete zu todbringenden Engeln werden, ist spätestens klar, dass diese Geschichte zwar aus dem Jahr 1942 kommt, aber noch lange nicht zu Ende ist:

Die Beamten, Herren mit gutgebügelten Anzügen und einem steifen Kragen, die für die bedauernde Ausgabe von Todesurteilen ein festes, bescheidenes Gehalt bekommen, Türhüter des Todes und Engel mit Feuerschwert und Pensionsberechtigung, sind sehr betrübt, sie sind geradezu untröstlich. Es gibt da aber so ein Ding wie eine Quote. Sie besagt, daß gewisse Menschen und Sorten der überschüssigen Menschenware, genannt Flüchtlinge, akzeptabel sind, den Rest werfe man den Löwen vor.

Den Beamten und Löwen gehört gleichwohl nicht das letzte Wort dieses Romans. Es gilt vielmehr der Hoffnung, dass „eines Tages dennoch aus der Niederung des Gemeinen die Menschlichkeit sich siegreich zum Lichte erhebt.“

Die deutsche Stimme Israels

Alice Schwarz wurde 1916 in Wien geboren. Nachdem die Nationalsozialisten das „Protektorat Böhmen und Mähren“ besetzt hatten, floh sie mit ihrer Familie nach Palästina und avancierte zur wohl bekanntesten deutschsprachigen Journalistin des Landes. Für die Zeitung „Jedioth Chadashot“, deren Nachfolger „Israel Nachrichten“ und andere Publikationen, verfasste sie bis ins hohe Alter rund 5.000 Artikel. Schwarz-Gados schrieb aber auch Novellen, ein halbes Dutzend Romane und Sachbücher wie „Frauen in Israel. Die Emanzipation hat viele Gesichter“.
Als sie am 14. August 2007 in Tel Aviv starb, würdigte die „Jüdische Allgemeine“ Alice Schwarz-Gados als „älteste Chefredakteurin der Welt“ und „deutsche Stimme Israels“.