Braune Relikte 32: Schlüsselbund zu einer Wohnung in Königsberg.
Zu den zentralen Folgen des Zweiten Weltkrieges gehörten die gewaltigen Wanderungsbewegungen. Menschen wurden entwurzelt, mussten fliehen, wurden vertrieben oder deportiert. Ein Teil davon betraf die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen, die ihre Wohngebiete in den deutschen Gebieten östlich der Oder verlassen mussten.
Eine erste Welle flüchtete 1944/45 beim Vormarsch der „Roten Armee“. Eine zweite folgte mit den Vertreibungen und Deportationen nach Kriegsende. Auf der Potsdamer Alliiertenkonferenz vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 wurden Umsiedlungen beschlossen, nachdem die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie bis zu einer offiziellen Friedensregelung unter polnische und sowjetische Verwaltung gestellt wurden. Ungarn und die Tschechoslowakei durften ebenfalls Deutsche aussiedeln.
Geschätzte zwei Millionen Menschen überlebten die Strapazen nicht. 12,5 Millionen gelangten in die vier Besatzungszonen. Angesichts der persönlichen Verluste wurde vom Einzelnen kaum wahrgenommen, dass das erlittene Leid ein geteiltes Leid war. Auch Polinnen und Polen wurden von Ost nach West umgesiedelt, da der UdSSR der östliche Teil Polens zugesprochen wurde, während Polen mit den östlichen deutschen Gebieten entschädigt wurde.
Ebenso wenig wurde der Zusammenhang von Ursache und Wirkung realisiert. Der Wunsch, die Situation zu revidieren, führte zur Gründung von Interessenverbänden wie dem BHE und später dem BdV, der 1957 aus dem „Bund der vertriebenen Deutschen“ und dem Verband der Landsmannschaften hervorging. Die meisten Flüchtlinge und Vertriebenen stammten aus Schlesien und Ostpreußen. In Niedersachsen stellten die Flüchtlinge und Vertriebenen mit knapp 1,5 Millionen 22,8 % der Gesamtbevölkerung. Das Land war prozentual das zweitgrößte Aufnahmegebiet im Westen (Schleswig-Holstein: 31,6 %; Bayern: 18,4 %). Die Zahl nahm bis 1949 noch weiter zu auf 1,82 Millionen (= 26,4 %). Innerhalb des Bundeslandes gab es ein West-Ost-Gefälle, da die Menschen nach dem langen Weg zunächst im Osten blieben. Ein kleinerer Teil zog später weiter.
Dazu gehörte auch Familie Migge aus Königsberg, der 1945 die Flucht nach Westen gelang. Sie zog über Celle nach Osnabrück. Tochter Hertha (1930–2014) erinnert sich an den Aufbruch: „Am Sonntag, den 28. Januar 1945, sind wir bei 30 Grad minus und klarem Sonnenschein losgezogen. Jeder hatte einen Rucksack auf dem Rücken. […] Meine Mutter hatte nur auf Kekse und Angorawäsche für meinen herzkranken Vater geachtet und hatte vergessen, ihren Familienschmuck mitzunehmen. Um den hat sie später noch getrauert.“
Als Migges den Haustürschlüssel abzogen, war ihnen nicht klar, dass sie Königsberg nie wiedersehen würden. Der Vater verstarb früh. Die Mutter „hing weiterhin an Ostpreußen und traf sich regelmäßig mit ca. 20 ostpreußischen Frauen, die sie ‚ihre Klunkern‘ nannte. Sie verabredeten sich alle vier Wochen in der Vitischanze zum Kaffeetrinken. Das war ein Stück ostpreußisches Hoheitsgebiet für sie“.
Und die Tochter? „Es war so abwegig, sich noch gedanklich an Ostpreußen zu binden, wenn man nicht psychisch kaputt gehen wollte. Daher kehrte ich mich davon ab. […] Ostpreußen bin ich gefühlsmäßig eigentlich kaum noch verbunden. Ich habe für mich herausgefunden: Mein Mann war meine Heimat.“
Zu dieser Serie
Es ist die Geschichte einer Stadt, doch was hier geschah, ereignete sich auch in vielen anderen deutschen Städten. Die Serie „Braune Relikte“ basiert auf der Sammlung Nationalsozialismus, die sich im Museumsquartier Osnabrück befindet. Anhand von Objektbiografien wird die Geschichte des Nationalsozialismus mit seinen Ursachen und Folgen veranschaulicht. So entsteht ein virtueller Lernraum, der die Fundstücke einer Diktatur analysiert, um Lernprozesse für demokratische Gesellschaften zu ermöglichen.