Fremde Verwandte

Aufgelesen (10): Gabriele Reuters Roman „Aus guter Familie“.

Was will die höhere Tochter? So richtig weiß es Agathe, das wohlbehütete Kind des sittenstrengen Regierungsrats Heidling, wohl selber nicht. Doch die Ahnung, dass ihr Leben etwas mit Freiheit und Selbstbestimmung zu tun haben sollte, nimmt immer deutlichere Konturen an.

Dabei passen die literarischen Muster, die Agathe aus den Büchern von Georg Herwegh oder Lord Byron herausgelesen hat, nicht annähernd zu den starren Geschlechterrollen im Wilhelminischen Kaiserreich, die der Vater unablässig propagiert. So schickt Gabriele Reuter die Protagonistin ihres Romans auf eine Reise, in deren Verlauf sie in immer härtere Konflikte mit Eltern, Freunden und Verwandten, gesellschaftlichen Normen, erotischen Phantasien, religiösen und politischen Heilslehren gerät.

Agathe spürt, dass ihr innerer Kompass sie weiter und weiter von dem Weg entfernt, der ihr in dem Erbauungsbuch „Des Weibes Leben und Wirken als Jungfrau, Gattin und Mutter“ vorgezeichnet wird.

Denn das Weib, die Mutter künftiger Geschlechter, die Gründerin der Familie, ist ein wichtiges Glied der Gesellschaft, wenn sie sich ihrer Stellung als unscheinbarer, verborgener Wurzel recht bewußt bleibt.

Sie lotet neue Aufgaben und Ziele aus und ist doch unfähig, die Umklammerung der bürgerlichen Welt dauerhaft zu durchbrechen. Ihr Vetter Martin bietet sich mehrfach als erfolgversprechender Fluchthelfer an, doch im Laufe der Jahre wird aus dem sozialistischen Agitator ein zynischer Lebemann. Er versteht sich am Ende beunruhigend gut mit dem Vater, der Agathes Leben durch Ausgeh-, Lese- und Denkverbote zu kontrollieren versucht.

In einem letzten, verzweifelten Ausbruch geht Agathe auf ihre -erfolgreicher funktionierende – Schwägerin los und landet in einer Nervenheilanstalt. Der Roman endet in stiller Verzweiflung:

Mit Bädern und Schlafmitteln, mit Elektrizität und Massage, Hypnose und Suggestion brachte man Agathe im Laufe von zwei Jahren in einen Zustand, in dem sie aus der Abgeschiedenheit mehrerer Sanatorien wieder unter der menschlichen Gesellschaft erscheinen konnte, ohne unliebsames Aufsehen zu erregen. (…) Weil die Aerzte dem Regierungsrat gesagt haben, seine Tochter brauche nur ein wenig geistige Anregung, erzählt er ihr, was er des Morgens in der Zeitung gelesen habe. Nach dem Kaffee begiebt sich Papa ins Lesemuseum, abends spielt er Whist mit ein paar alten Herren, und Agathe legt Patience. So leben sie still nebeneinander hin – voller Rücksichten und innerlich sich fremd.

Freuds Lehrmeisterin

Ihr erfolgreichster Roman „Aus guter Familie“ erreichte bis 1931 insgesamt 28 Auflagen und auch „Ellen von der Weiden“, „Der Amerikaner“ oder die Novellensammlung „Frauenseelen“ wurden rund um die vorletzte Jahrhundertwende zu viel diskutierten Bestsellern. Bis heute flackert das Interesse an ihrem außergewöhnlichen Werk immer wieder auf – doch dem breiten Lesepublikum ist Gabriele Reuter schon seit langem kein Begriff mehr.

„Aus guter Familie“ machte sie Mitte der 1890er Jahre schlagartig berühmt. Die 1879 in Alexandria geborene Gabriele Reuter war schon lange literarisch aktiv gewesen, fand aber erst im Umkreis der deutschen Naturalisten ihren unverwechselbaren Tonfall und ihr großes Thema: Die Analyse der Geschlechterrollen in der modernen Gesellschaft. 1897 brachte sie ihre uneheliche Tochter Lili zur Welt – die schwierige Situation einer alleinstehenden Schwangeren schilderte sie später in dem skandalumwitterten Buch „Das Tränenhaus“ (1908).

Zu dieser Zeit lebte Gabriele Reuter bereits in Berlin, wo sie zahlreiche Romane, aber auch Novellen, Kinder- und Jugendbücher, Essays und journalistische Texte veröffentlichte. Mit der bürgerlichen Frauenbewegung teilte sie viele Gemeinsamkeiten, bezog aber in einigen Punkten – etwa der strikten Ablehnung von Ehe und bürgerlicher Familie – auch radikalere Positionen.

Ihr souveräner Schreibstil und die tiefenpsychologische Ausdeutung ihrer Figuren verschafften ihr nicht nur ein großes Publikum, sondern auch den Respekt bedeutender Zeitgenossen. Für Thomas Mann war Gabriele Reuter „vielleicht die souveränste Frau, die heute in Deutschland lebt“. Reuters Werke vermittelten „die besten Einsichten in das Wesen und die Entstehung der Neurosen“, meinte kein Geringerer als Siegmund Freud.

Neu aufgelegt

Trotzdem geriet Gabriele Reuter schon zu Lebzeiten immer mehr in Vergessenheit. Sie starb am 16. November 1941 in Weimar. Erst vier Jahrzehnte später, im Zuge gezielter Forschungen nach Werken weiblicher Autoren um die Jahrhundertwende, geriet sie wenigstens wieder in den Fokus der Literaturwissenschaft.

So konnte 2006 eine neue zweibändige Werkausgabe des Roman „Aus guter Familie“ im Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT) erscheinen. 2016 veröffentlichte Annette Seemann unter dem Titel „Gabriele Reuter. Leben und Werk einer geborenen Schriftstellerin (1859-1941)“ eine facettenreiche Monographie aus heutiger Sicht.