Es sollte eine Verbindung „für immer und immer“ sein, die die vier Schulkinder Lieselotte, Minna, Hildegard und Leon buchstäblich verbindet: Die Mädchen tragen selbstgenähte Freundschaftsarmbänder, die sie mit Knöpfen geschlossen haben. Doch die politischen Ereignisse und die damit einhergehende gesellschaftliche Spaltung Ende der 30er Jahre machen auch vor der Lebensrealität dieser Kinder, den „Verknöpften“, nicht Halt.
Vor der Kulisse des erstarkenden Antisemitismus in Bochum erleben wir sowohl die anfänglich kleinen Entbehrungen im Alltag, über die zunehmende Ausgrenzung und Anfeindung Bürger jüdischen Glaubens und das Zurücknehmen persönlicher Bedürfnisse bis hin zur Eskalation und Flucht.
Ein kluges Buch, ein wichtiges Buch, das die Autorin Andrea Behnke für Kinder ab 10 Jahren geschrieben hat. Erschienen ist es im Ariella Verlag, dem ersten jüdischen Kinderbuchverlag Deutschlands.
Junge Leser an ein sensibles Thema heranführen
Andrea Behnke arbeitet in ihrem Roman die Geschichte von Else Hirsch auf, indem sie diese in ein fiktives, kindgerechtes Szenario rund um das jüdische Mädchen Liselotte, ihre drei Freunde und die engsten Bezugspersonen einbettet. Fiktion trifft auf wahre Begebenheiten, sodass den jüngeren Lesern ebenso wie Erwachsenen ein Zugang zu dem äußerst sensiblen Thema Shoah ermöglicht wird.
Einfühlsam führt Andrea Behnke an eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte – auf den Begriff Vergangenheit sollten wir an dieser Stelle aufgrund jüngerer antisemitischer Vorfälle ganz bewusst verzichten – heran und zeigt auf, welche Bedeutung Freundschaft und Solidarität haben. Subtil streut die Autorin immer mal wieder Aussagen der Protagonisten ein, die einen Blick auf die innere Gefühlswelt und die Wahrnehmung der Geschehnisse erlauben.
Der unverstellte Blick aus der Perspektive der Hauptfigur Liselotte komprimiert so manchen komplexen Sachverhalt aufs Wesentliche. So wird die Zielgruppe in ihrer eigenen Lebensrealität abgeholt, die geschilderten Ereignisse und Empfindungen werden nachvollziehbar gemacht. Ohne viele Worte, und dennoch atmosphärisch dicht: „Seit ein paar Wochen jedoch ist alles so anders geworden. So kompliziert“, bringt es Hauptprotagonistin Liselotte bereits zu Beginn der Geschichte auf den Punkt.
Politische Umwälzungen durch die Augen eines Kindes
Durch Lieselottes Augen werden wir Zeuge der Reichspogromnacht. Wir erleben mit, wie „Männer in Uniformen“ die nahegelegene Synagoge, das Symbol der Gemeinschaft, in Flammen setzen, das Familiengeschäft demolieren und die einstmals starke Vaterfigur demütigen und schließlich als gebrochenen Mann zurücklassen.
Die Lehrerin Fräulein Hirschberg wiederum, die als kleine Person beschrieben wird, gewinnt buchstäblich an Größe in den Augen des Kindes. Sie ist dort stark, wo andere hilflos und überwältigt von der eigenen Verzweiflung sind. Ihre Antwort auf die Frage „Was sollen wir tun?“ kommt als klare Ansage, die einen Ausweg suggeriert: „Sie sollten Englisch lernen. Oder Hebräisch.“ Wenige Monate später organisiert sie die ersten Kindertransporte ins Ausland, um ihre Schützlinge in Abstimmung mit den Familien in Sicherheit zu bringen.
Realhistorische Bezüge
Hier gelingt der Brückenschlag zur realen Person Else Hirsch, deren wahre Geschichte als Vorlage und Aufhänger für „Die Verknöpften“ diente. Else Hirsch, die tatsächlich als jüdische Lehrerin an der israelitischen Schule in Bochum tätig war, begegnet uns in der Figur des Fräulein Hirschberg als engagierte, entschlossene Frau.
Ihre Motivation, in der fiktiven Handlung wie auch in der Realität, gilt dem Schutz ihrer Schüler. Sei es als Wegbegleitung, um Schüler vor den Übergriffen nicht-jüdischer Kinder zu schützen, als Organisatorin der Kindertransporte nach England oder schließlich als Lehrerin im Ghetto Riga, wo sie die Jüngsten nach wie vor unterrichtet, da es „ihre einzige Chance ist“.
Die realen Bezüge sind durch Andrea Behnke, die Politikwissenschaft, Anglistik und Publizistik studiert hat, hervorragend recherchiert und sinnvoll in die fiktive Geschichte eingebettet. In Hinblick auf den pädagogischen Mehrwert erweist es sich als besonders praktisch, dass die Autorin ihre Rechercheergebnisse zum Teil als leicht-verständlichen Anhang hinzugefügt hat. So finden sich zahlreiche Fotos und Erklärungen zu den realhistorischen Ereignissen in dem Buch, die als Grundlage für eigene weiterführende Recherchen dienen können und sich insbesondere für die Verwendung im Schulunterricht eignen.
Eine klare Leseempfehlung für den unkomplizierten Zugang
„Ich habe das Buch [„Die Verknöpften“] auch geschrieben, um zu erinnern. Ich finde es wichtig, die Erinnerung aufrechtzuerhalten. Dieser Teil der deutschen Geschichte darf nicht vergessen werden“, schrieb die Autorin Andrea Behnke am 27. Januar 2021 auf ihrer Website anlässlich des Shoah-Gedenktags. Dies ist ihr mit diesem Kinder- und Jugendbuch bestens gelungen.
Die Lektüre lohnt sich nicht nur für die Jüngeren, sondern auch für jeden Erwachsenen, der einen Zugang zur Thematik sucht. Ein Buch mit Strahlkraft, dem zahlreiche Leser jeden Alters zu wünschen sind. „Die Verknöpften“ ist in jeder Hinsicht pädagogisch wertvoll: Für ein Miteinander auf Augenhöhe und gegen das Vergessen.
Andrea Behnke: Die Verknöpften. Mit Illustrationen von Inbal Leitner, Ariella Verlag 2021