Obwohl Rachilde ihren „materialistischen Roman“ nicht in Paris, sondern in Brüssel erscheinen ließ, entfesselte „Monsieur Vénus“ einen Sturm der Entrüstung. Die Autorin wurde zu zwei Jahren Gefängnis sowie einer Geldstrafe von 2.000 Francs verurteilt und kehrte Belgien eilends den Rücken. Auch in späteren Jahren wurde das Buch allenfalls in gekürzter Form publiziert. Nach 136 Jahren liegt nun die erste vollständige Ausgabe in deutscher Sprache vor.
Raoule de Vénérande, jüngster und vermutlich letzter Spross eines angesehenen Pariser Adelsgeschlechts, verliebt sich in den malenden Gelegenheitsarbeiter Jacques Silvert. Sie richtet ihm ein Atelier ein, versorgt ihn mit Geld und Drogen und schlüpft immer tiefer in die Rolle des reichen, machtbewussten Bonvivants, der eine körperlich reizvolle, ansonsten aber durchaus unbedarfte Geliebte aushält.
Raoule und Jacques tauschen jedoch nicht nur ihre Garderoben, sondern auch ihre Rollen im öffentlichen Leben und ihre persönlichen Empfindungswelten.
„Wenn man ihnen zusah, wie sie sich aneinandergeschmiegt drehten und in einer Umarmung verschmolzen, bei der sich trotz ihrer Kleidung Fleisch an Fleisch presste, stellte man sich die eine Gottheit der Liebe in zwei Personen vor, das vollständige Wesen, von dem die Legenden der Brahmanen erzählen, zwei Geschlechter in einer Gestalt.“
Das Glück der beiden ist nur von kurzer Dauer. Nachdem Raoule Jacques demonstrativ zur Frau genommen hat, beginnt diese(r) eine Affäre mit dem Baron de Raittolbe und wird von ihm im Duell getötet. Raoule lässt Jacques zu Ehren eine mechanische Puppe bauen, die den Mund bewegen und ihre Schenkel spreizen kann.
Diese letzte Provokation bürgerlicher Wohlanständigkeit musste schon aus der 2. Auflage des Romans verschwinden …
Neue Identität oder nur ein Seitenwechsel?
Literatur war ihrer Zeit oft voraus, doch die Radikalität, mit der „Monsieur Vénus“ gesellschaftliche Konventionen über Bord warf und dabei Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und sexuelle Freizügigkeit einforderte, war außergewöhnlich – selbst in der brodelnden europäischen Literaturszene um 1900. Dass dabei ein nicht immer ausbalancierter, aber jederzeit packender, vielschichtiger und kontroverser Roman in einem rasanten, mitunter erfrischend ruppigen Erzählton entstand, war für die Nachwirkungen des Buches sicher auch nicht von Nachteil.
Zumal Marguerite Eymery alles tat, um den extravaganten Eindruck durch ihre Persönlichkeit zu schärfen. Sie erwirkte die Erlaubnis, in der Stadt Männerkleidung zu tragen, entlieh den Namen „Rachilde“ von einem mysteriösen schwedischen Edelmann aus dem 16. Jahrhundert und schmückte ihre Visitenkarte mit der Berufsbezeichnung „Homme des Lettres“.
Trotzdem ging es der Autorin wohl ähnlich wie ihrer androgynen Heldin Raoule, die es weniger auf eine neue Identität als auf die Umkehrung der bestehenden Machtverhältnisse abgesehen hat. Zur feministischen Ikone wollte sich die Schriftstellerin und Journalistin jedenfalls nicht machen lassen. 1928 gab sie in einem programmatischen Text zu Protokoll:
„Ich habe es immer bedauert, kein Mann zu sein, nicht etwa, weil ich die andere Hälfte der Menschheit mehr schätze, sondern weil ich, die ich aus Pflicht und Neigung dazu gezwungen war, als Mann zu leben und in meiner Jugend allein die ganze schwere Last des Lebens zu tragen, es vorgezogen hätte, wenigstens die Privilegien, wenn schon nicht das Äußere zu haben.“
Dem Reclam-Verlag ist mit „Monsieur Vénus“ eine Edition gelungen, die durch die herausragende und überaus zeitgemäße Übersetzung von Alexandra Beilharz und Anne Maya Schneider Maßstäbe setzt. Auch der Anhang mit editorischen Notizen, den Vorworten zu den ersten drei Auflagen (1884, 1885,1889), zeitgenössischen Abbildungen und einer ebenso kritischen wie kenntnisreichen Einordnung von Martine Reid überzeugt auf ganzer Linie.
Rachilde: Monsieur Vénus, Reclam, 18 €