Die neue, einmal mehr vierteilige Reihe aus dem Archiv Historische Bildpostkarten ist den gefährlichen, feuerspeienden Ungeheuern gewidmet, die trotz ihrer beispiellosen Popularität nie existiert haben. Zum Start unserer Drachen-Serie geht es recht gemütlich zu, denn der hier zu sehende „Tatzelwurm“ gleicht eher einem Krokodil im Kasperletheater.
Sagen und Märchen berichten immer wieder von der Existenz gefährlicher Drachen. Der Kopf ähnelt dem eines Krokodils, und der Leib verlängert sich zu einem monströsen, schlangenartigen Gebilde mit seltsamen Auswüchsen. Krallenbewehrte Tatzen ermöglichen es ihnen, böse zuzupacken, und manchmal können sie sogar fliegen. In deutschen Landen verbreitet sich ihr zweifelhafter Ruf und kündet davon, dass sie den Menschen nicht immer wohlgesonnen sind. Man muss sich vor ihnen schützen. Das ruft starke Männer auf den Plan, die sich ihnen gewachsen fühlen und sich unter dem Beifall der Bevölkerung anbieten, die Welt unter Einsatz des eigenen Lebens von dieser Plage zu befreien. Dafür erhalten sie dann einen Platz im Gedächtnis der Menschen, wie zum Beispiel ➤ der Erzengel Michael oder Held Siegfried aus der Nibelungensage bzw. aus Richard Wagners „Siegfried“-Oper.
In Teilen der alpenländischen Welt kennt man einen Drachen mit Namen „Tatzelwurm“. Auf Bildpostkarten aus der Zeit des Deutschen Kaiserreiches tritt er gerne in Erscheinung, zum Beispiel auf der vorliegenden, 1898 gelaufenen Karte aus der Gegend um das bayerische Oberaudorf. Hier hat sich der Wurm mit dem aufgerissenen Maul im Echsengesicht oben auf einer Anhöhe unübersehbar in Positur gesetzt. Der Platz liegt in einer schönen, in zarte Grau- und Goldtöne gebetteten Gebirgslandschaft, deren Bergspitzen die Sonne erhellt. Unten schlängelt sich ein Flüsschen durch das Tal, und nur ein kleines weißes Haus mit ausgestellter Markise kündet von der Anwesenheit von Menschen in all der Natur.
Was hat der „Tatzelwurm“ hier vor? Was macht er da oben? Man nennt ihn auch „Beißwurm“ – sucht er etwa hungrig nach einem Menschenopfer oder wacht er nur missgelaunt über seinen schönen Aussichtsplatz? Mit den spitzen Zähnen, den überdimensionalen Krallen und der Flammenzunge sieht er gefährlich aus, sodass Vorsicht geboten scheint. Immerhin hat er Flügel und könnte seine potentiellen Opfer auch schnell aus der Luft erreichen.
Das ist jedoch alles Camouflage, tatsächlich ist – wie sich wohl jeder denken kann – der „Tatzelwurm“ ein Fantasieprodukt, entstanden im Kopf eines Dichters, der ihn in weinseliger Stimmung erdacht oder das Fabeltier zumindest mit einigen gruseligen Eigenschaften ausgestattet hat. Es ist Joseph Victor von Scheffel, der sich seiner literarisch angenommen und ihm ein langes Gedicht in amüsanter Ichform gewidmet hat. Nicht zuletzt mit diesem Image entwickelte sich der „Tatzelwurm“ zu einer bekannten regionalen Werbefigur für örtliche Gasthäuser und Scheffels Opus zu einer beliebten Form der Unterhaltung. Es ist ➤ auf einer anderen Bildpostkarte vollständig abgedruckt , hier ein kurzer Ausschnitt daraus:
Hornhaut war mein Schuppenleib
Und Feuerspei’n mein Zeitvertreib.
Und was da kroch den Berg herauf,
Das blies ich um und frass es auf
Als Tazzelwurm.
Der schlechte Ruf des Untiers wird dichterisch verklärt, erzeugt Gelächter und fördert vermutlich den Konsum regionalen Weines. Wirft man in gelöster Stimmung noch einmal einen Blick auf die „Grusskarte“, so wirkt dieser Tatzelwurm wegen seiner übertriebenen Besitzer-Pose eher amüsant und lustig, etwa wie das Krokodil im Kasperletheater. Das hat seine Popularität gefördert. So baute man zum Beispiel dem domestizierten Drachen zu Ehren einen Brunnen auf dem historischen Marktplatz im idyllischen Moselort Kobern-Gondorf, wo das Wasser sein Feuer und sein Gift dauerhaft in Schach hält.
Im Ersten Weltkrieg allerdings wird er wieder zum gefährlichen Gegner. Auf ➤ einer der Kriegskarten lässt man deutsche Soldaten gegen ihn aufmarschieren mit der Losung: „Das Schwert gezückt, dass wir mit Sturm / Bestahn den fremden Tatzelwurm“.