Hamlet und die toxische Gesellschaft

„Der Mensch könnte so viel besser sein, aber wir schaffen es nicht, nach unseren eigenen Idealen zu leben“, sagt Johan Simons. Der Theaterregisseur hat 2019 „Hamlet“ auf die Bühne des Schauspielhauses Bochum gebracht – und unter Beweis gestellt, wie aktuell der Stoff Shakespeares noch heute ist. Die Inszenierung wurde für die ZDF theateredition aufgenommen und ist nun auf DVD bei Naxos erschienen.

König Hamlet wurde von seinem Bruder Claudius ermordet. Zu allem Überfluss nahm dieser sich nicht nur das Königreich Dänemark, sondern ehelichte auch seine durch ihn verwitwete Schwägerin Gertrud. Prinz Hamlet wiederum wird vom Geist seines Vaters heimgesucht und schwört, Rache an seinem Onkel zu nehmen.

Ohne Frage handelt es sich bei „Hamlet“ um einen brisanten Stoff, der in der hier vorliegenden Interpretation gerade deshalb beeindruckend ist, weil er durch die starke Reduktion in seiner Intensität wirken kann: Das Bühnenbild ist minimalistisch gehalten, um den Emotionen, und zwischenmenschlichen Interaktionen genau den Raum zu bieten, den sie brauchen. Johan Simons hat das Stück klug umgesetzt und ein Ensemble zusammengestellt, das der Herausforderung einer „Hamlet“-Inszenierung mehr als gewachsen ist.

Sandra Hüller, die in der Titelrolle zu sehen ist, weiß die innere Zerrissenheit ihrer Figur nach außen zu kehren. Dem gleichermaßen emotionalen und rationalen Spannungsfeld, in dem sich Hamlet befindet, verleiht sie gekonnt Ausdruck. Ob bedrückt bei nachdenklicher Miene oder aufbrausend mit wutverzerrten Gesichtszügen, diese Wandlung leistet Sandra Hüller im Bruchteil einer Sekunde – und das absolut überzeugend. Sowohl 2019 als auch 2020 wurde sie für ihr darstellerisches Talent bei der Kritikerumfrage von „Theater heute“ zur Schauspielerin des Jahres gewählt.

Besonders erwähnt sei außerdem Mercy Dorcas Otieno in der Rolle der Königin Gertrud: Der Spagat zwischen der erhabenen Königin und der besorgten Mutter, die ihren verstörten Sohn liebevoll in den Arm nimmt und neckt, um ihn zu trösten, gelingt ihr hervorragend. Sie verleiht dem Charakter Tiefgang und macht das Wechselbad der Gefühle äußerst lebendig. Gina Haller tut es ihr als Ophelia gleich: Sie erzeugt eine atmosphärische Dichte auf der Bühne, die absolut mitreißend ist.

Bühne und Bildschirm

Die Präsentation eines Theaterstücks im DVD-Format eröffnet neue Möglichkeiten. Jedoch obliegt der Fernsehregie auch große Verantwortung: Die Kameraführung und der Schnitt bringen eine weitere Dimension ein. So können die Zuschauer Emotionen anders wahrnehmen, sind näher dran am Geschehen als es im Theatersaal der Fall sein könnte.

Jedoch schränken andere Einstellungen wiederum die Dynamik ein: Zu groß wird die Distanz zum Spiel auf der Bühne, durch die veränderte Mediengewohnheit, die hier eingefordert wird. Theater und Film funktionieren eher passabel zusammen als dass die Symbiose überzeugt. Denn allzu viel Atmosphäre geht verloren, der Schnitt nimmt Spannung aus der Inszenierung raus.

Den Regisseur zu Wort kommen lassen

Wenn man die DVD vorliegen hat, lohnt die Lektüre des Booklets allemal. Denn hier gibt Johan Simons Aufschluss über seine Intention bezüglich der Inszenierung. Aus seiner divers zusammengestellten Besetzung möchte er beispielsweise kein großes Thema machen: „Erst im Moment, in dem man sich nicht mehr fragt, warum eine schwarze Schauspielerin […] Königin Gertrud spielt, ist die Zeit der Diskriminierung endlich vorbei. Mit meiner Besetzung mache ich keine politischen oder feministischen Statements, sie ist rein künstlerisch.“

Auch die Einordung in den gesellschaftlichen Kontext offenbart, dass er „Hamlet“ zum richtigen Zeitpunkt gebracht hat. Ein gewisser Weltschmerz, der ihn 2019 bereits erfasst hat, könnte aktueller nicht sein. Als Zuschauer fühlt man diesen geradezu nach: „Die Zeit ist aus den Fugen, mehr als jemals zuvor. Über die Umwelt und die anstehende Klimakatastrophe brauchen wir gar nicht zu reden. Auch die menschliche Natur ist in einem miserablen Zustand.“

Eben diese toxische Gesellschaft ist es, die dem Stück seine Aktualität, seinen philosophischen Tiefgang und seine Bedeutung zukommen lässt: Verantwortung möchte niemand übernehmen, Lüge und Selbstbetrug stellen laut Johan Simons den Normalfall dar. Das gelte für Shakespeares Zeiten wie auch für die Gegenwart.

Hamlet. William Shakespeare inszeniert von Johan Simons, ZDF theateredition, DVD, Naxos