Hatte Jesus Geschwister?

Nicht nur der heilige Hieronymus stolperte gedanklich über Bibelstellen, an denen von den Geschwistern Jesu die Rede ist. So berichtet das Markus-Evangelium von Jakobus, Josef, Simon und Judas sowie nicht namentlich genannten Schwestern. Theologisch versiert bemühte sich der Kirchenvater um eine Erklärung dieser Passagen, denn als Gottessohn sollte der Heiland eher ein Einzelkind sein.

Daraus entwickelte sich die Legende von der „Heiligen Sippe“, in der die heilige Anna zunächst der Gottesmutter das Leben schenkt und nach dem Tod ihres Mannes Joachim noch zweimal heiratet. Aus diesen Ehen gehen zwei weitere Töchter hervor, die ebenfalls Maria heißen und insgesamt sechs Söhne haben.

Am Vorabend der Reformation hatte sich die heilige Anna zu einer besonders geschätzten Heiligen entwickelt, die als sogenannte Anna Selbdritt gemeinsam mit Maria und Jesus dargestellt wurde. 1483 schuf ein bedeutender Maler für den Hochaltar des Osnabrücker Domes ein Tafelgemälde, das auf der Vorderseite die Heilige Sippe zeigt und auf der Rückseite Anna Selbdritt. Letztere war alltags zu sehen, während die 17-köpfige Heilige Sippe an den Festtagen beim Aufklappen des Hochaltars im Osnabrücker Dom zur Geltung kam.

Drei Generationen der Verwandtschaft Jesu hat ein namentlich nicht bekannter Künstler für den Osnabrücker Dom auf eine Eichentafel gemalt. Bei den spielenden Jungen soll es sich um die Cousins Jesu handeln.

Nach dem 1563 beendeten Konzil von Trient erkaltete das Interesse an der heiligen Anna, ihren Ehemännern und Nachfahren, weil ihre Geschichte in dieser Form nicht in den Evangelien zu finden war. Der spätmittelalterliche Hochaltar des Domes wurde 1664 durch einen barocken Nachfolger ersetzt. Danach verliert sich die Spur der beidseitig bemalten Eichentafel zunächst, bis der Domvikar Franz Carl Berlage sie um 1870 stark beschädigt als Abdeckung über einer Bodenöffnung in den Gebäuden neben dem Dom wiederentdeckte. Er erkannte die große Qualität des Werkes, so dass die Tafel zunächst in der Mitte geteilt, beide Seiten restauriert und im Bischofshaus aufgehängt wurden.

Der Restaurator fügte manches im Stil des 19. Jahrhunderts hinzu. Diese Erkenntnis sowie weitere weniger gelungene spätere Restaurierungen führten dazu, dass 2013 zunächst die Heilige Sippe und 2018 auch die Tafelhälfte mit der Anna Selbdritt von der Restauratorin Marita Schlüter eingehend untersucht und zum großen Teil bis auf die mittelalterlichen Farbschichten freigelegt wurde.

Geduld, Erfahrung und Präzision brauchte Marita Schlüter, um das Bild wieder mittelalterlich erscheinen zu lassen.

Anschließend stellte sie das Gesamtbild so wieder her, dass ihre Ergänzungen nachvollziehbar sind. In der Weihnachtsausstellung des Diözesanmuseums 2018 nahmen das Christkind auf dem Schoß von Mutter und Großmutter sowie seine heilige Sippe den zentralen Platz ein und Anna Selbdritt war erstmals nach der Restaurierung wieder öffentlich zu sehen.