Von seinem ersten großen Erfolg „I promessi sposi“ (1856) bis zum letzten vollendeten Bühnenwerk „Marion Delorme“ (1885) schuf Amilcare Ponchielli etwa ein Dutzend abendfüllender Opern. Mit Ausnahme von „La Gioconda“ konnte sich keine auf Dauer durchsetzen, doch hin und wieder ist dann doch etwas von ihnen zu hören. Die erste vollständige Aufnahme von „I Lituani“ entstand im September 2020 am denkbar plausibelsten Ort – in Vilnius.
Als ob es nicht schon kurios genug wäre, dass die litauische Nationaloper aus der Feder eines Italieners stammt, der sich auf ein polnisches Versepos stützt, ist die Hauptfigur auch noch ein Hochmeister des Deutschen Ordens, der die eigenen Landsleute ins Verderben stürzt. Oder war Konrad von Wallenrode, hier Walter genannt, vielleicht ein vom Orden entführter Litauer, der sich im letzten Moment seiner wahren Herkunft entsann? Historisch eher nicht, doch Amilcare Ponchielli, seinem Librettisten Antonio Ghislanzoni und dem ursprünglichen Plot-Entwickler Adam Mickiewicz ging es ja vor allem um dramatische Verwicklungen und die interessante Frage, ob eine scheinbare Kollaboration nicht eigentlich die ideale Tarnung für revolutionäre Umtriebe sei. Was denn freilich zu multiplen Identitätskrisen führt, die durch ein innerliches Zur-Ordnung-Rufen allenfalls überschattet werden.
Man könnte also mit einigem Recht behaupten, dass in der Oper gleich mehrere Walters auftreten. Es gibt allerdings auch einen recht eindimensionalen Verräter namens Vitoldo und den altväterlichen Strippenzieher Albano. Außerdem Walters Frau Aldona, die in den zehn Jahren, die zwischen Prolog und 1. Akt liegen, ebenfalls in einen Orden eingetreten ist. Und dann ist da noch ihr Bruder Arnoldo, der die deutschen Ritter in Harnisch bringt, weil er die Sonne gesangsweise über litauischen Flüssen aufgehen lässt.
Albano, Aldona, Arnoldo – da kann der nicht voll konzentrierte Opernfreund schon einmal den Überblick verlieren und verpasst doch nichts Wesentliches, denn auf der Handlungsebene werden alle denkbaren Klischees bedient, um schließlich in die absehbare Selbstzerstörung zu münden. Musikalisch aber hat die Oper einiges zu bieten. Neben melodisch höchst ansprechen Arien, Duetten und Ensembleszenen wartet „I Lituani“ mit opulenten Chören und einigen stimmungsvollen Orchesterstücken auf.
Unter der engagierten Leitung von Modestas Pitrènas gelingt es dem Litauischen Staatlichen Symphonieorchester und dem Staatschor Kaunas denn auch, die Aufmerksamkeit über knapp drei Stunden an sich zu binden. Die fünf Solopartien wurden ebenfalls mit Sängerinnen und Sängern aus Litauen besetzt. Jūratė Švedaitė (Aldona), Kristian Benedikt (Walter), Modestas Sedlevičius (Arnoldo), Tadas Girininkas (Albano) und Arūnas Malikėnas (Vitoldo) haben sich in unterschiedlichem Umfang jedoch auch international einen Namen gemacht. Für dieses Projekt bilden sie ein durchaus homogenes Ensemble, dem die Freude an der außergewöhnlichen Aufgabe durchweg anzumerken ist.
Amilcare Ponchielli: I Lituani, Accentus, 3 CDs