Im Kaufrausch

Aufgelesen (30): Margarete Böhmes Roman „W.A.G.M.U.S.“.

Die großen Kaufhäuser der aufstrebenden Metropole Berlin haben Träume stets im Sonderangebot. Aber in Margarete Böhmes Roman „W.A.G.M.U.S.“ kommen weder Kunden noch Verkäufer auf ihre Kosten.

Josua Manasse, der seit seiner Hochzeit Müllenmeister heißt, führt eines der größten Warenhäuser in Berlin, doch seine Pläne gehen weit über die erfolgreiche Gegenwart hinaus. Die „Warenhaus-Aktiengesellschaft Müllenmeister & Söhne“, kurz W.A.G.M.U.S., soll im Herzen der Hauptstadt einen neuen, noch voluminöseren Konsumtempel entstehen lassen, dessen Strahlkraft sich niemand mehr entziehen kann. Bevor der Grundstein gelegt ist, träumt der Bankier van Hoolten bereits von einem „Wagmus-Rummel“ ungeahnten Ausmaßes:

Ganz Berlin wandelt auf Wagmus-Teppichen, knabbert Wagmus-Biskuits, kleidet sich in Wagmus-Tuche, schläft in Wagmus-Betten, hört Wagmus-Konzerte, bespritzt sich mit Wagmus-Odeurs.

Der Coup gelingt, doch Josua Müllenmeister zahlt für den geschäftlichen Erfolg einen hohen Preis. Auch seine Familienmitglieder, Verwandten und Bekannten profitieren nur sehr bedingt von ihrer bevorzugten gesellschaftlichen Stellung oder dem Umstand, dass ihnen der sozial engagierte Direktor hilfreich zur Seite steht. Einsamkeit, gescheiterte Beziehungen, schwere Krankheiten, Tod und Selbstmord prägen den Lebensweg vieler Figuren. Weh dem, der sich ernsthaft Anderes erhofft hat – „Luftschlösser sind zerbrechliche Dinge“, konstatiert die Erzählerin scheinbar ungerührt.

Am härtesten trifft es allerdings diejenigen, die von den Machtzentralen ausgeschlossen sind und der „brutalen Souveränität des Kapitals“ nichts entgegenzusetzen haben. „Wer einmal in der großen Hackmaschine drin ist“, klagt einer der Betroffenen, der sei eben nur „Fleischbrei im Darm des Warenhauses, Wurst, wieder Wurst und nochmals Wurst (…)“.

Ein Jahrhundert vergessen

Den „besten Handelsroman der letzten Jahrzehnte“ wollte der Rezensent des „Vorwärts“ 1911 gelesen haben und gab „W.A.G.M.U.S“ damit ostentativ den Vorzug vor Thomas Manns „Buddenbrooks“ (1901). Dieser Einschätzung muss man nicht zustimmen – außergewöhnlich ist Margarete Böhmes Roman in jedem Fall. Der in Husum geborenen Schriftstellerin, der als W.A.G.M.U.S.-Urbild offenbar das berühmte Kaufhaus Wertheim vorschwebt, gelingt ein packendes Zeitporträt, das im Tempo der Großstadt den vielschichtigen Figuren folgt, wobei das Kopfkino der Leser auf harte Schnitte und abrupte Kameraschwenks gefasst sein sollte.

Der Lichthof im ehemaligen Warenhaus Wertheim

Dabei wartet Böhme mit verblüffenden Detailkenntnissen auf. Besonderheiten des Warenverkehrs, spezielle Arbeitsabläufe oder komplizierte Finanzoperationen werden in den Erzählfluss integriert – und das umso reibungsloser als die immer kritische, aber nie parteiische Autorin vorschnelle Einordnungen und tendenziöse Zuspitzungen vermeidet. So wie Josua Müllenmeister existieren auch seine Zeitgenossen in mindestens zwei Versionen.

Der Gedanke, dass durch seine Unternehmungen ganze Stände und Berufsarten wegrasiert, ihres Nährbodens beraubt, lebensunfähig wurden, tangierte ihn nicht im Geringsten; aber für jeden einzelnen, der indirekt durch ihn Geschädigten fühlte er die herzlichste Teilnahme, und in jedem Einzelfall bot er alles auf, die Wirkungen des Unterliegens im Kampf mit einem ungleichen Gegner möglichst zu paralysieren.

Böhme lenkt den Blick immer wieder auf die Situation der Frauen, die vor, während und gegebenenfalls nach einer Ehe um ihr persönliches und berufliches Selbstbestimmungsrecht ringen, sich aber auch gegen sexuelle Übergriffe sowie kirchliche und gesellschaftliche Konventionen wehren müssen. Auch unter diesem Aspekt können die Verdienste der Husumer Theatergruppe „5plus1“, die den einst auch international beachteten, dann aber fast vollständig vergessenen Roman wieder ans Licht der Öffentlichkeit holte, kaum hoch genug eingeschätzt werden.

Rückblick: Ein Tagebuch wird zum Bestseller

Sechs Jahre vor „W.A.G.M.U.S.“ gelang Margarete Böhme der literarische Durchbruch, obwohl sie bis zum Ende ihres Lebens bestritt, das „Tagebuch einer Verlorenen“ selbst verfasst zu haben. Sie gab sich stattdessen als Herausgeberin eines Dokuments aus, das als „authentischer Beitrag zu einer brennenden sozialen Frage unserer Tage“ zu verstehen sei. Bei einem Teil des Publikums, das sich in Berlin auf die Suche nach Schauplätzen des Buches machte, verfing diese Strategie und womöglich hätte der Text im Kaiserreich Wilhelms II. auch gar nicht als Roman veröffentlicht werden können.

Die Geschichte der Thymian Gotteball, die vom Apothekergehilfen des Vaters verführt und – als sie ein Kind erwartet – gnadenlos verstoßen wird, zeigte die Gesellschaft so verlogen und unmenschlich, wie sie auf keinen Fall gesehen werden will und avancierte zu einem Sensationserfolg. Bis Ende der 1920er Jahre erreichte das „Tagebuch“ eine Auflage von 1,2 Millionen Exemplaren, wurde in 14 Sprachen übersetzt und dreimal verfilmt, unter anderem von Georg Wilhelm Pabst (1929), der die Hauptrolle mit der legendären Louise Brooks besetzte.

Dabei hat dieser Roman mit der halb kitschigen, halb lüsternen Prostitutionsromantik, die sich durch so manchen Lesestoff jener Jahre zieht, nichts zu tun. Schnörkellos erzählt Böhme von familiärer Enge, starren gesellschaftlichen Regeln, Alkoholismus, Missbrauch, männlicher Gewalt und der Unterdrückung von Frauen, denen – völlig unabhängig davon, ob es sich um Huren, Hausfrauen oder Heilige handelt – ein selbstbestimmtes Leben verwehrt wird. Prostitution ist hier keine sittliche Verfehlung, die durch das fiktive Geschehen erklärt und entschuldigt werden müsste. Für Thymian kommen Kirche und Religion als moralische Instanz ohnehin nicht mehr in Betracht, in der „Zwangserziehung, resp. Besserungsanstalt des Herrn Pastor Daub und seiner Gattin Ulrike“ hat sie zu weit hinter die Kulissen geschaut. Für Thymian und ihre Schicksalsgenossinnen ist klar, dass in Bordellen, noblen Etablissements und auf dem Straßenstrich ein Machtkampf stattfindet, der mit Geld und Gewalt entschieden werden kann.

Wie manche würde sich gern „retten“ lassen. Freilich nicht durch Besserungsanstalten und Stadtmissionen, immer von oben herab, von dem Kothurn der überlegenen Moral: (…) Nee, auf den Schwindel fällt keine herein. — Nein, um hier zu ändern und zu bessern, müsste schon eine neue Weltordnung, eine vollständige Umkremplung der Begriffe und Verhältnisse vorangehen. Die Menschen müssten ihren alten Adam ausziehen und ihre Vorurteile wie einen Haufen verlauster Wäsche verbrennen. Die Schranken müssten fallen.

Neben ihren beiden berühmtesten Romane sind in den letzten Jahren auf Initiative der ➤ Theatergruppe „5plus1“ weitere Werke von Margarete Böhme neu aufgelegt worden und im Buchhandel erhältlich, so etwa „Anna Nissens Traum“, „Christine Immersen“ oder „Sarah von Lindholm“.