Im Reich der Ökotopier

Manche Bücher sind zeitlos. Andere Texte sind auch nach hundert Jahren noch aktuell und scheinen die Nöte einer neuen Gegenwart einzufangen. Wieder andere Bücher sind ihrer Zeit weit voraus und lesen sich als verrückte Utopie – bis sie knapp 50 Jahre später erneut aufgelegt werden und dann den Eindruck vermitteln, sie seien gerade erst geschrieben worden.

So ein Buch ist „Ökotopia“ von Ernest Callenbach, das in der neuen, schlanken und sehr zeitgemäßen Übersetzung von Holger Hanowell bei Reclam erscheint. Der US-Schriftsteller, Journalist und Universitätslehrer, der vor zehn Jahren verstarb, hatte es 1975 geschrieben und nach zwanzig Ablehnungen des Manuskripts einen eigenen Verlag zur Veröffentlichung gegründet. Zu skurril wirkten wohl die Ideen, die er in „Ökotopia“ entwarf: In den USA sollte sich im Jahr 1980 auf dem Gebiet von Oregon, Nordkalifornien und Washington der Staat Ökotopia abgespalten und so gut wie alle Beziehungen zum alten Amerika abgebrochen haben.

Die eigentliche Story spielt dann 1999 – der Reporter William Weston ist der erste Amerikaner, der eine offizielle Erlaubnis für eine Recherchereise erhält. So ist der Text auch aufgebaut, eine Mischung aus Reportagen, Notiz- und Tagebucheinträgen, die ein bisschen an „Gullivers Reisen“ erinnert. Weston reist durch ein Land, das er nicht versteht, da er es an dem misst, was er kennt: dem American Way of Life. Aber in Ökotopia ist alles anders. Es gibt keine Privatautos mehr, die Menschen haben eine komplette Kreislaufwirtschaft etabliert, Produkte sind einfach zu reparieren und Hierarchien so gut wie abgeschafft. In der Hippie-Republik wird basisdemokratisch entschieden, das gesamte System ist dezentralisiert, Politik ist Teil des Alltags und die Menschen versuchen, mehr mit der Natur als von der Natur zu leben. Im Laufe des Buches öffnet sich Weston diesem Leben, bis er sich in Ökotopia verliebt und auch eine neue Form von Beziehung kennenlernt.

Aus heutiger Sicht erscheint vieles, was Callenbach beschreibt, sinnvoll und notwendig, wenn die aktuelle Klimakatastrophe noch abgewendet werden soll. Das überrascht kaum, denn Callenbachs Inhalte sind nicht frei erfunden. Der Autor stand in regem Austausch mit Wissenschaftlern, Fachzeitschriften und zahlreichen ökologischen Projekten, in denen neue Lebensformen ausprobiert wurden.

Für Callenbach war „Ökotopia“ wohl nicht in erster Linie eine literarische Utopie und ganz gewiss kein Roman im eigentlichen Sinne. Dadurch erklärt sich die uneinheitliche Struktur und der Werkstattcharakter des Textes, der im „Nachwort der Herausgeber“ als vermeintliche Nachricht William Westons offen angesprochen wird.

Du hast mir gesagt, ich soll die ganze Geschichte einfach aufschreiben, aber als ich damit angefangen hatte, stellte ich fest, dass ich es wirklich nicht konnte. Deshalb schicke ich dir mein Notizbuch, auch wenn ich nicht weiß, ob du damit überhaupt etwas anfangen kannst.

Callenbach war auch insofern ein Vertreter des „Nature Writing“, wichtiger als Zu- und Einordnungen war ihm aber das Gedankenspiel mit durchaus praktischen Möglichkeiten, das auch sein im Rotbuch-Verlag erschienenes Buch „Billig leben mit Stil“ prägt. Hier gibt er Denkanstöße und handfeste Tipps für ein besseres, nachhaltigeres und zufriedeneres Leben in der ganz realen Welt.
Diese Verankerung in der Wirklichkeit mag dazu geführt haben, dass selbst in Ökotopia nicht alles konfliktfrei verläuft und den Menschen durchaus grundlegende Veränderungen abverlangt werden. Manches geht dabei auch schief, denn nicht einmal den Ökotopiern ist es gelungen, den Menschen das Rauchen abzugewöhnen.

Alles in allem eine anregende Gesellschaftsutopie und ein inspirierendes – manchmal etwas schwerfälliges und langatmiges, in jedem Fall aber sehr reizvolles – Schreibexperiment.

Ernest Callenbach: Ökotopia, Reclam, 24 €