Im Sog der Metropole

Aufgelesen (19): Olga Wohlbrücks Roman „Der große Rachen“

Die „Goldenen Zwanziger“ hatten noch gar nicht begonnen, da beleuchteten Kunstschaffende bereits die Schattenseiten des großstädtischen Lebens. Eine von ihnen war Deutschlands erste Filmregisseurin Olga Wohlbrück.

Seit der Geiger Otto Graebner die Solistenkarriere gegen den Willen seiner Frau Susanne abgebrochen hat, lebt er mit ihr und zwei kleinen Kindern in einer Berliner Mietwohnung. Susanne wird es hier bald zu eng, denn ein zurückgezogenes Dasein als Hausfrau und Mutter entspricht so gar nicht ihren Vorstellungen. Die begabte Pianistin will zurück auf die Konzertbühne, mindestens aber die Großstadt in vollen Zügen genießen und um keinen Preis will sie als Anhängsel eines schlecht bezahlten Musiklehrers enden.

Nur an sich dachte sie. Als wäre plötzlich ihr Eigenleben erwacht – so war ihr.
Und dann dachte sie zurück an all die Jahre mit ihrem Mann und suchte sich und – fand sich nicht.
Ihren Mann sah sie, und die Kinder und die Plackerei mit der Wirtschaft – nur sich selbst sah sie nicht …
Und nun war sie da und wartete. Wartete auf das, was die Tage ihr bringen sollten. Ihr allein …

Das Ehepaar entfremdet sich im Eiltempo einer Zeit, die alte Gewissheiten hinter sich lässt. Um irgendwie an die Luxusartikel zu kommen, die gesellschaftliches Renommé und persönliche Zufriedenheit versprechen, lässt sich Susanne zu einem Kaufhausdiebstahl hinreißen. Sie setzt ihr letztes Geld auf Pferderennen, gewinnt in kurzer Zeit große Summen, die sie ebenso schnell wieder verliert. Andere Männer kreuzen ihren Weg, entfernen sich wieder – vergessen sie und werden von ihr vergessen.

Am Schluss des Romans ist auch Susanne „fortgegangen und untergetaucht“. Ihr vorübergehender Verehrer Felix Franck therapiert seine hemmungslose Spielsucht in den Armen der beinahe ruinierten Familie. Susannes Schwager, der ehrgeizige Chirurg Julius Graebner, der für seine waghalsigen Forschungen Menschenleben geopfert hat, wird wegen vorsätzlicher Tötung belangt und von einem geisteskranken Patienten erschossen. Und seine Frau Elise, die ihr Heil zeitlebens zwischen Rollschreibtisch und Geldschrank suchte, steht am Ende wieder vor dem eisernen Koloss und macht eine unheimliche Entdeckung.

Nicht Geld allein lag in seiner schwarzen, kalten Tiefe. Alle ihre Hoffnungen, alle ihre Träume, all die Jahre, die sie hier gesessen und gerechnet, und all ihr Leben, um das sie sich selbst betrogen hatte, lagen hier eingesargt. …
Sie stöhnte laut auf und fiel mit der Stirn gegen die eiserne Tür.
Aus dem gähnend geöffneten Rachen aber schlug ihr die kalte, moderige Luft drohend und begehrlich in das bleiche Anlitz.

Berlin und der Zufall

Gestörte Beziehungen und Familiendramen, Lügen, Betrug, Gewalt und Mord, Spielsucht und Alkoholismus: Wer der Faszination der Metropole erliegt, wird in diesem Roman bestraft. Im großen Rachen ist sich jeder selbst der Nächste, ein Anzeichen von Schwäche bereits der erste Schritt zur Selbstaufgabe und Empathie ein Luxus, den sich kaum jemand leisten will. Bei näherer Betrachtung fungiert Berlin aber nur als emotionaler Durchlauferhitzer. Täter und Opfer stammen durchgehend aus der Provinz. Hier wurde also offenbar vorbereitet, was in der Großstadt eskaliert.

Vielschichtig wie die Charaktere, ihre Selbstbilder und Interaktionen ist auch die Erzählstruktur. Immer wieder weisen ansatzlose Rückblenden darauf hin, dass Wesentliches bereits geschehen ist und kaum mehr korrigiert werden kann. Die Protagonisten blicken dann wie unbeteiligte Zuschauer auf ihre Erlebnisse – augenscheinlich beruhigt darüber, dass manche Verantwortlichkeiten im Nachhinein schwer zu ermitteln sind.

Dr. Graebner, der sich für die Folgen seiner illegalen, experimentellen Behandlungen nicht zuständig fühlt und vom Krieg noch mehr „Material“ erhofft, hat daraus eine Philosophie entwickelt, in der sich die zentrale Metapher nicht auf Berlin, sondern auf das Phänomen des Zufalls bezieht. Das Endziel aller Wissenschaften sei die Einschränkung von Zufallsmöglichkeiten und setze voraus, „sich dem gähnenden, ungeheuren, allverschlingenden Rachen des Zufalls auszusetzen“. Eben das versuchen auch die Glückspielsüchtigen des Romans – auf ihre ganz eigene Weise.

Autorin mit Großstadterfahrung

Olga Wohlbrück lebte unter anderem in Kiew und Paris, ehe sie 1888 nach Berlin zog. Hier schrieb die Schauspielerin und Regisseurin auch das Drehbuch „Ein Mädchen zum Verschenken“, das sie 1913 auf die Leinwand brachte. Es war wohl der erste deutsche Film, der von einer Frau inszeniert wurde. Zwei Jahre später erschien der Roman „Der große Rachen“, in dem Olga Wohlbrück ihrer Wahlheimat ein souverän geschriebenes und bis heute lesenswertes Porträt widmete.

Ein Verlag, der sich zu einer Neuauflage bereit fände, müsste nicht einmal auf Berliner Originale verzichten. Die Auftritte der Frau Seiler, die mit dem imaginären Beistand ihrer Freundin „Die Klausen“ gegen die „vornehmen Leute“ zu Felde zieht, bleiben sicher nachhaltig im Gedächtnis.

Wenn Sie heute den Sarg von mein´ Mann öffnen, da finden Se nur jeleimte Stücksken von ihm – det hat der Herr Dokter selber zujejeben. Det machen se in keenem anständ´jen Krankenhause!“