In dem Duft dieser Luft

Als die Pariser Operette ihre größten Triumphe hinter sich hatte und das Gold an ihrem Wiener Nachfolger bereits abgeblättert war, schlug ein Berliner noch einmal Kapital aus dem Erfolgsrezept vergangener Jahrzehnte. Doch Paul Lincke kopierte nicht nur, er fügte dem Genre auch ein sehr spezielles Fluidum hinzu.

Lincke war kein brillanter Satiriker, der die Gesellschaft hartnäckig mit entblößenden Spiegelbildern traktierte, aber das Klischee vom kleingeistigen Kapellmeister mit untertänig gezwirbeltem Kaiser-Wilhelm-Bart zielt doch ein gehöriges Stück an der Realität vorbei. Wer Operetten wie „Frau Luna“ (1899) oder „Lysistrata“ (1902) aus einem ebenso wohlwollenden Blickwinkel betrachtet wie sozialgeschichtlich interessierte Musikhistoriker heute auf Jacques Offenbach, Franz von Suppé oder Arthur Sullivan schauen, erkennt zumindest Risse in der preußischen Fassade.

Wie ernst Gesellschaftskritik von der Rampe des Apollo Theaters und anderer Berliner Unterhaltungsbühnen zu nehmen war, steht wieder auf einem anderen Blatt. Lincke-Verehrer vertrauen vielleicht etwas zu sehr darauf, dass in dem Duft dieser Luft „nur selten was verpufft“. Denn das rundum sympathische Bild einer faszinierend vielseitigen, hartschalig-weichkernigen, kunterbunten, welt- und sogar mondoffenen Metropole, das in Linckes populärsten Nummern immer neu entworfen wird, gab der Unterhaltungsmusik der deutschen Hauptstadt zwar ein unverwechselbares und obendrein identitätsstiftendes Gepräge – passte aber offenkundig nur sehr bedingt zur historischen Rolle Berlins im 20. Jahrhundert.

Zu entdecken und zu diskutierten gibt es hier noch einiges – auch in musikalischer Hinsicht. Sieben Ouvertüren, der Walzer „Verschmähte Liebe“ und die „Siamesische Wachtparade“, die vom hörbar gut gelaunten Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt unter der Leitung von Ernst Theis eingespielt wurden, zeigen Paul Lincke nicht nur als nimmermüden Erfinder eingängiger Melodien, sondern auch als geschickten Instrumentator und cleveren Verteiler dramatischer Schwerpunkte.

Paul Lincke: Ouvertüren Vol.1, cpo