In einem fremden Haus

Nicht jede Autorin und nicht jeder Autor traut sich an einen schweren Stoff heran. Bei Bettina Wilpert ist das anders. Sie scheint genau dann zu literarischen Höchstleistungen aufzulaufen, wenn das Thema eine sensible und dennoch ausdrucksstarke Stimme benötigt. In ihrem neuen Werk „Herumtreiberinnen“ erzählt sie die Geschichte dreier Frauen, die zu unterschiedlichen Zeiten gelebt haben. Sie müssen sich in einer Gesellschaft behaupten, in die sie nicht ganz zu passen scheinen.

Lerchenstraße in Leipzig – ein fiktiver Ort mit einer bewegten Geschichte. In der Gegenwart der Romanhandlung erinnert nichts mehr an die streckenweise düstere Vergangenheit: Wo einst die Gestapo ein Durchgangslager für politisch Inhaftierte unterhielt und zu DDR-Zeiten „politisch unzuverlässige“ Frauen unter dem Vorwand, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten, untergebracht wurden, leben später Geflüchtete. Nebenan spielen Kinder in der Kindertagesstätte.

Beinahe scheint es, als ob die Gegenwart eine Wiedergutmachung sein, die dunklen Kapitel der Vergangenheit heilen soll. Kaum jemand weiß heute noch, welche Gräueltaten sich hier früher hinter verschlossenen Türen abspielten. Die erzählte Geschichte basiert allerdings auf ähnlichen Ereignissen in der Realität – überdies hat Wilpert die Atmosphäre des Schauplatzes in beeindruckender Weise eingefangen.

Intime Erzählperspektive für ungeschönte Einblicke

Der Inhalt ist schnörkellos und vor allem eins: beklemmend. Als Leser erhalten wir direkte Einblicke in die Wahrnehmung und Gedankenwelt der Protagonisten. Hier wird nichts geschönt. Die dargestellten Momentaufnahmen erlauben es, tief in das Thema einzutauchen. Bettina Wilpert ist etwas Besonderes gelungen, indem sie anhand der ihr vorliegenden Akten und weiterführender Recherchen Motive schafft, die absolut realistisch anmuten. Weiterhin wird durch die Erzählperspektive eine Nähe zu den Protagonisten geschaffen, die nicht persönlicher, nicht intimer sein könnte.

So begegnen wir der 17jährigen Manja, deren Vergehen es sein soll, sich in einen Vertragsarbeiter aus Mosambik verliebt zu haben. Als sie im Wohnheim der Vertragsarbeiter von der Volkspolizei aufgegriffen wird, bringt man sie ohne Erklärung auf die „Venerologische Station für Frauen mit Geschlechtskrankheiten“, wo sie erhebliche Misshandlungen erleidet.

Lilo ist die Tochter eines kommunistischen Widerstandkämpfers und wird während der 40er Jahre von einer Haftanstalt in die nächste überführt. Eine Durchgangsstation befindet sich in der Lerchenstraße. Durch ihre Augen sehen wir als Leser, wie sie versucht, angesichts der abgründigen Taten während des Dritten Reiches zu überleben.
In den 2010er Jahren begleiten wir dann die junge Sozialarbeiterin Robin in die Unterkunft für Geflüchtete, die sich mittlerweile in der Lerchenstraße befindet. Gemeinsam begeben wir uns auf die Suche nach einem Platz in dieser Gesellschaft.

Der oftmals sprunghafte Wechsel der verschiedenen Erzählstränge wirkt zunächst etwas willkürlich, entpuppt sich aber schließlich als gezielt eingesetztes Stilmittel, um einen Spannungsbogen zu erzeugen und die Verbindung der Protagonistinnen zueinander herzustellen.

Mit „Herumtreiberinnen“ hat Bettina Wilpert unter Beweis gestellt, dass sie vor allem eins beherrscht: starke Motive und intensive Charakterstudien, zum Ausdruck gebracht in einer lebendigen, direkten Sprache.

Bettina Wilpert: Herumtreiberinnen, Verbrecher Verlag 2022, 25 €