In fremdem Wind

In der kleinen Form des Kunstliedes entdeckte der Schweizer Otmar Schoeck (1886-1957) die gesamte Palette seiner musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten. Seine Landsfrau Graziella Contratto hat nun elf frühe Lieder orchestriert und damit ein reizvolles Gegenstück zu Schoecks spätem Zyklus „Nachhall“ geschaffen.

„Der Wind ist fremd, du kannst ihn nicht umfassen“: Kaum ein Vertreter der musikalischen Avantgarde wäre Mitte der 1950er Jahre auf den Gedanken gekommen, Texte von Nikolaus Lenau zu vertonen. Es hätte sie aber auch wohl niemand genialer in Szene setzen können als der kranke und verbitterte Otmar Schoeck, der für das Ende des Lebens, tiefe Einsamkeit und hoffnungslose Verzweiflung eine Reihe dunkel kolorierter Klanglandschaften entwarf. Die fahle Szenerie wird von „stillen Traumesfunken“ und einer beharrlichen Sehnsucht freilich immer wieder in Bewegung gesetzt, und sei es nur in Richtung eines „großen Untergangs“ – wie in dem soghaft dahinrauschenden, hochgradig mysteriösen Lied-Gedicht „Niagara“.

Der Bariton Stephan Genz ist ein wunderbarer, Texte und Töne tief auslotender Interpret der 12 magischen Werke, nach denen es einer kleinen Pause bedarf, um auf die frühen Lieder nach Texten von Heine, Eichendorff, Jacobi, Uhland und Mörike umzuschalten. Graziella Contratto ist zweifellos eine hochkompetente Sachwalterin des Komponisten und betont in ihren Orchesterfassungen Schoecks illustrierendes, mitunter auch spielerisches Talent. Die Bearbeiterin hatte nach eigenem Bekunden den Eindruck, „als ob der junge Komponist für jedes Gedicht ein neues Klangnarrativ erfinden wollte.“

Da fragt es sich natürlich, ob er zu diesem Zweck nicht schon alle notwendigen Mittel gewählt hat. Wer bisherige Einspielungen der Lieder (etwa historische Aufnahmen mit Othmar Schoeck am Klavier) zu Rate zieht, wird vermutlich kein anderes Instrument vermissen. Gleichwohl geht Contratto auf der Suche nach orchestralen Entsprechungen zum reinen Klavierpart mit großem Feingefühl und Stilbewusstsein zu Werke und findet in der ukrainischen Sopranistin Olenar Tokar eine adäquate, leidenschaftliche Sängerin. Höhepunkt dieses frühen Teils ist die fesselnde Mörike-Vertonung „Peregrina II“, die Contratto in dem opulent gestalteten, reich bebilderten Booklet mit Schoecks unglücklicher Liebe zur ungarischen Geigerin Stefi Geyer in Verbindung bringt.

Ein Erfolgsgarant des außergewöhnlichen Projekts ist das Berner Symphonieorchester, das unter der Leitung von Graziella Contratto phasenweise selbst zum Protagonisten wird, sich bei aller Suggestionskraft aber auch immer wieder auf die Rolle des feinsinnig unterstützenden Begleiters zurückzuziehen weiß.

Othmar Schoeck: Nachhall op.70, Heine-Lieder op. 4 für Sopran und Orchester, Acht Lieder op. 17 für Sopran und Orchester (arrangiert von Graziella Contratto), Schweizer Fonogramm