Im Sommer 2022 kehrte Carl Heinrich Grauns „Silla“ nach fast 240 Jahren auf die Bühne zurück. Die Produktion war ein weiterer großer Erfolg für die Innsbrucker Festwochen der Alten Musik und wurde auch bei den Osterfestspielen Rheinsberg begeistert gefeiert. Bei cpo ist nun die Gesamtaufnahme erschienen.
Grundidee und Textvorlage des 1753 uraufgeführten „Silla“ kam einmal mehr vom Arbeitgeber des Hofkapellmeisters Graun. Der preußische König Friedrich II., dessen Prosaentwurf von Giovanni Pietro Tagliazucchi in italienische Verse gesetzt wurde, fand Gefallen daran, am Beispiel realer oder mythischer Alleinherrscher seine eigenen machtpolitischen Vorstellungen zu entwickeln, zu diskutieren oder auch zu rechtfertigen.
Das historische Role Model war diesmal der römische Diktator Lucius Cornelius Sulla, der sich durch brutale Kriege und die Verfolgung und Ermordung politischer Gegner in die Geschichte eingeschrieben hatte, ehe er im Jahr 79. v.Chr. überraschend abdankte und immerhin die Bereitschaft erkennen ließ, für seine Taten Rechenschaft abzulegen.
Auch der Opern-Sulla zeigt sich im 3. Akt reumütig und einsichtig. Er hört während eines Rezitativs die Stimme des Vaterlandes, die von ihm verlangt, seinen Leidenschaften mit Vernunft und Empathie zu begegnen, geliehene Macht nicht zu missbrauchen und vom Amt des Diktators zurückzutreten. Doch auch in den noch übrigen 185 Minuten wird pausenlos debattiert und reflektiert – über Recht und Gerechtigkeit, Selbstkontrolle und Machtmissbrauch, Liebe und Pflicht, Gehorsam, Widerstand und Opportunismus.
Wollen wir das alles hören? Unbedingt! Weil es aufschlussreich ist, dem preußischen Monarchen bei der – vielleicht nicht durchweg ehrlich gemeinten, aber doch ordnungsgemäß publizierten – Läuterung eines bis zum Ende betont selbstsicheren Diktators zuzusehen und weil Carl Heinrich Graun immer neue Spannungsmomente erzeugt und seine Musik auch über lange Strecken zu fesseln vermag. Auf die sieben Protagonisten warten facettenreiche Rollen und mitunter beträchtliche technische Anforderungen, die ebenfalls ganz unterschiedlicher Natur sind. Selbstzweifel, Reflexionen und lyrische Stimmungsbilder wechseln mit Liebesbeteuerungen, Wutausbrüchen und Racheschwüren, wobei der Umfang der Arien von schmalen drei bis zu elf Minuten reicht.
Unter diesen Umständen war es ein echter Glücksfall, dass für die erste Aufführung nach knapp 240 Jahren ein Ensemble der Extraklasse zur Verfügung stand. Neben dem großartigen, alle Charakterschattierungen in Töne verwandelnden Bejun Mehta (Silla) konnten die Innsbrucker Festwochen der Alten Musik mit Valer Sabadus (Metello) und Hagen Matzeit (Lentulo) zwei weitere herausragende Countertenöre und mit Samuel Mariño einen brillanten Sopranisten aufbieten. Auch die verschreckte, im Opportunismus Schutz suchende Fulvia, ihre für Liebe und Freiheit kämpfende Tochter Ottavia und der intrigante Ränkeschmied Crisogono wurden mit Roberta Invernizzi, Eleonora Bellocci und Mert Süngü exquisit besetzt.
Motor am Pult des Innsbrucker Festwochenorchesters war wie so oft Alessandro De Marchi, dessen musikalisch begeisternde und historisch verdienstvolle Arbeit immer wieder neue Maßstäbe setzt.
Carl Heinrich Graun, Silla, 3 CDs, cpo