Kriegsgefangenschaft

Braune Relikte (30): Ein Schachspiel.

Die Versorgung der Kriegsgefangenen und ihre Rückführung nach Kriegsende war ein logistisches Problem. Der völkerrechtliche Schutz der Gefangenen wurde dabei aus unterschiedlichen Gründen oft nicht gewährleistet.

Während des Zweiten Weltkriegs gab es 11 Millionen deutsche, 5,7 Millionen sowjetische, 1,6 Millionen französische, 400.000 polnische, 100.000 serbische und 15.000 schwer verwundete alliierte kriegsgefangene Soldaten. Zahllose, besonders Sowjetarmisten und Deutsche, überlebten die Gefangenschaft nicht. In den meisten Lagern herrschten katastrophale hygienische Zustände. Läuse, Flöhe und Wanzen machten den Gefangenen zu schaffen. Als einziges Mittel gegen diesen Befall half häufig nur eine Ganzkörperrasur. Waschräume – sofern vorhanden – und Latrinen wurden meist von mehreren hundert Gefangenen gleichzeitig benutzt. verunreinigtes Wasser führte bei vielen zu Magen- und Darmerkrankungen. Bereits Geschwächte überlebten diesen Zustand oft nicht.

Während in deutscher Kriegsgefangenschaft die Todesrate unterschiedlicher Nationalitäten bei etwa 2 % lag, traf es die sowjetischen Gefangenen besonders hart. Weit über die Hälfte kam ums Leben. Es gehörte zur Strategie des am 22. Juni 1941 begonnenen deutschen Vernichtungskrieges gegen die UdSSR, den Tod Kriegsgefangener fest einzukalkulieren. Allein in den ersten Monaten des „Russlandfeldzugs“ bis Ende 1941 starben zwei der 3,35 Mio. sowjetischen Gefangenen ohne ausreichende Ernährung und medizinische Versorgung an Hunger, Auszehrung und Epidemien wie Fleckfieber und Ruhr. Aufgrund des „Kommissarbefehls“ wurden zudem über 140.000 Rotarmisten als „politisch untragbar“ durch die Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD gezielt ermordet. Weitere 1,3 Millionen Gefangene starben in Kriegsgefangenen-, Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern.

Für deutsche Soldaten war das Risiko, als Kriegsgefangener zu sterben, in sowjetischen Lagern am größten; nicht zuletzt aufgrund der insgesamt prekären Versorgungslage in der UdSSR. In den Lagern der Westalliierten sorgten bei Kriegsende die chaotischen Zustände in den Rheinwiesenlagern für höhere Sterberaten. Insgesamt bestand der Alltag der Kriegsgefangenen abseits des täglichen Ringens um Hygiene, Essen und Schutz vor Wetterunbilden daraus, sich irgendwie zu beschäftigen. Der Malermeister Hermann Hollenbeck verbrachte im März 1945 einen Teil seiner Kriegsgefangenschaft im amerikanischen Kriegsgefangenenlager Aversa bei Neapel und bastelte sich dort ein Schachspiel. Die Holzfiguren schnitzte er mit einer halben Rasierklinge. Die Farbe für die dunklen Figuren wurde aus in Wasser aufgelösten Kaliumpermanganat-Tabletten gewonnen, die aus dem Sanitätsbereich stammten.

Hollenbeck hat die Figuren nach seiner Rückkehr nachbearbeitet. Bei der Dose, in der die Figuren aufbewahrt wurden, handelt es sich um eine Butter-Konservendose, die auf einem Stein über einer Metallschiene gebogen, gebördelt und gefalzt wurde. Das Schachfeld stellte er aus einem Stück Küchenzelt her. Die Nadel zum Bördeln wurde aus einem US-Dosenöffner angefertigt. Die Ölfarben stammen aus einem Autodepot des Lagers. Vorlage für das Gemälde „Neapel mit Vesuv“ war eine Ansichtskarte. Die Farben wurden mit einem Birkenholzspan aufgetragen und mit dem Finger verstrichen. Hollenbeck fertigte zudem unter der Anleitung eines Absolventen der Königsberger Kunstakademie Schriftproben an.

 

Zu dieser Serie
Es ist die Geschichte einer Stadt, doch was hier geschah, ereignete sich auch in vielen anderen deutschen Städten. Die Serie „Braune Relikte“ basiert auf der Sammlung Nationalsozialismus, die sich im Museumsquartier Osnabrück befindet. Anhand von Objektbiografien wird die Geschichte des Nationalsozialismus mit seinen Ursachen und Folgen veranschaulicht. So entsteht ein virtueller Lernraum, der die Fundstücke einer Diktatur analysiert, um Lernprozesse für demokratische Gesellschaften zu ermöglichen.