Landgänge im Heidemeer

In einer Serie von vier Artikeln begibt sich der Autor auf zwei literarische Spaziergänge, einer im deutschen Münsterland, einer im englischen Northamptonshire. Beide Gegenden zeichneten sich im 19. Jahrhundert vor allem durch Heidelandschaften aus und beide brachten in dieser Zeit mit Annette von Droste-Hülshoff und John Clare bis heute einflussreiche Dichterinnen und Dichter hervor, die sich insbesondere mit der sie umgebenden Natur beschäftigten. Anlass genug für den Autor, die Texte dieser Schriftsteller in einen ganz persönlichen Dialog zu bringen.

Ich hatte oft die grosse heide namends Emmonsales gesehen ihr gelber ginster erstreckte sich vor meinen augen bis in unbekannte einsamkeiten wenn ich auch blos an ihrem rande ging & meine neugir drängte mich an jenem morgen mir die gelegenheit zu stehlen & sie zu erkunden
Ich hatte mir vorgestelt das ende der welt liege am rande des orizonts & ich würde es in eines tages reise finden können

(Durch die ungewöhnliche Schreibweise transportiert Esther Kinsky die orthographischen Eigenheiten von John Clare hinüber ins Deutsche, siehe hierzu ihr Vorwort in: Reise aus Essex, S. 8f. Ich werde dieser Strategie auch bei meinen eigenen Übersetzungen von Clares Prosatexten folgen.)

Im Oktober drängt auch mich die Neugier, eine andere literarische Heidelandschaft zu erkunden, um der Frage nachzugehen, ob sie in irgendeine Art von Beziehung zu setzen sei mit der Heide rund um Helpston im englischen Northamptonshire, über die der Dichter John Clare (1793-1864) hier in seinen Kindheitserinnerungen schreibt und die ihn Zeit seines Lebens inspiriert hat. Ich mache mich also auf den Weg zur Heidelandschaft zwischen der Burg Hülshoff und dem Rüschhaus – der Heimat der fast gleichaltrigen deutschen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff (1779-1848).

Im Auto überquere ich die Grenze zum Münsterland und Horizont gibt es keinen, nur Regen. Nur ein metallener Stern durchsticht kurz das Grau, das sich um mich gelegt hat und mich im Auto einschließt – die Rotorblätter zweier Windräder, hintereinander versetzt. Doch auch dieser Lichtblick löst sich bald auf, als die Blätter ihren Gleichtakt verlieren und wieder zu reinen Flächen aus Eisen werden. Was suche ich überhaupt bei dem geplanten Gang vom Rüschhaus zur Burg? Warum will ich, dass Clare und Droste-Hülshoff zueinander sprechen?

Historische Verbindungen zwischen John Clare und Annette von Droste-Hülshoff

Dass die deutsche Dichterin den Engländer wahrgenommen hat, vielleicht sogar kürzere Zitate aus seinen Texten kannte, wurde bis jetzt noch nicht nachgewiesen, ist aber wahrscheinlich. Schließlich erschienen Rezensionen von Clares Texten inklusive beispielhafter Zitate sowie biografische Notizen in den literarischen Zeitungen und Magazinen, die auch Annette von Droste-Hülshoff las. Beispielhaft zu nennen ist hier das „Morgenblatt für gebildete Stände“ (Titel ab 1838: „Morgenblatt für gebildete Leser“), in dem 1842 auch ihr Gedicht „Der Knabe im Moor“ sowie die Novelle „Die Judenbuche“ veröffentlicht wurden. Überhaupt war Droste-Hülshoff sehr an der englischen Literatur ihrer Zeit interessiert, ließ sich in einigen ihrer Arbeiten von Walter Scott und George G. Byron oder Joanna Baillie inspirieren, verschaffte sich durch Publikationen wie Alan Cunninghams „Englischer Literaturgeschichte“ einen eigenen Überblick und hatte sich selbständig englische Sprachkenntnisse erarbeitet.

Umgekehrt ist es bei John Clare eher unwahrscheinlich, dass er das Schaffen von Droste-Hülshoff wahrgenommen hat. Zwar zeigen seine Lektüren von Salomon Gessners „Der Tod des Abel“ oder Christopher Christian Sturms „Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung auf alle Tage des Jahre“ ein grundsätzliches Interesse an deutschsprachiger Literatur. Allerdings sprach Clare selbst kein Deutsch und erste Übersetzungen von Droste-Hülshoffs Texten durch Thomas Medwin waren frühestens 1840, wahrscheinlich sogar erst um 1850 in England erhältlich. Zu diesem Zeitpunkt war Clares Geisteszustand schon so zerrüttet, dass er in den psychiatrischen Anstalten in Essex (1837-41) und Northampton (1841-64) untergebracht wurde. Da diese Einrichtungen für ihre Zeit recht modern waren, wird er auch hier Zugang zu Büchern und Magazinen und damit zu aktueller Lyrik gehabt haben. Es ist also nicht ganz auszuschließen, dass er Texte von Droste-Hülshoff kannte.

Gemeinsame Erfahrungen im Gehen durch die Heide

Was mich bei John Clare und Annette von Droste-Hülshoff stärker interessiert als literaturgeschichtlich nachzuweisende Einflüsse, ist eine Verwandtschaft im Geiste: Die Verbundenheit mit einer Landschaft, die tiefer geht als die Moden literarischer Sujets. Insbesondere das wüste Land der Heide war für Clare und Droste-Hülshoff ein bedeutungsvoller Raum, den sie in ihren Wanderungen durchmaßen und dem ich nachspüren will. Ich vermeide hierbei bewusst den Begriff des Spaziergangs, der weder auf Clares noch auf Droste-Hülshoffs Tätigkeit zutreffen würde, steht er doch für ein zielloses, gemächliches Gehen oder Schlendern.

Wiesen südlich von Helpston

Beide waren eher das, was man am treffendsten im Englischen als „walker“ bezeichnet. Wie wir in ihren Texten sehen werden, beinhalteten ihre Gänge ein tieferes phänomenologisches Durchdringen der Landschaft als der Begriff des Spaziergangs suggeriert. Ein treffender deutscher Begriff für ihre Tätigkeit sowie für mein Wandeln in ihren Fußstapfen könnte daher die Bezeichnung ‚Landgang‘ sein, die ich im Folgenden verwenden werde – vor allem wegen des von ihm wachgerufenen Assoziationsraums und seiner Ambiguität, beinhaltet er doch auch Anklänge vom Überschreiten räumlicher Grenzen und Zustände.

Die Heide (Englisch ‚heath‘), in die sie sich in diesen Landgängen immer wieder begaben, war zu ihrer Zeit noch stärker ein undefinierter Raum als heutzutage: Aus diesem Begriff „flieszt die vorstellung eines nicht urbar zu machenden, unfruchtbaren landes“; sie zeichnete sich vor allem aus durch ihre Weite und Leere: „ebenso heiszt sie wegen ihrer ausdehnung diu breite heide, wie wir ähnlich vom breiten felde, von weiter flur reden“ (Grimm: S. 795-9). Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie als eine Art idealisierte ‚wilde Natur‘ völlig frei von menschlichen Spuren war, wie wir ebenfalls in Clares und Droste-Hülshoffs Gedichten sehen werden. Im Erleben der beiden Autoren zeigt sich diese Heide vor allem immer wieder als liminaler Raum, als Raum der Grenzübergänge – weniger im Sinne vertikaler Grenzen wie Wänden, Mauern und Grenzlinien, sondern im Sinne horizontaler Schichten von Erinnerung und Gegenwart, von Natur und Kultur, von unterschiedlichen Wahrnehmungsdimensionen – eben ein „rande des orizonts“.

„Komm! ins Offene, Freund!“

Meine eigenen Landgänge in Deutschland (2024) und England (2019) beginnen konsequenterweise am Rande der Heide, am Ausgangs- und Gegenpunkt: den Wohnhäusern von Clare und Droste-Hülshoff, dem Clare Cottage und dem Rüschhaus. In Deutschland führt mich die Strecke zur Burg Hülshoff und zurück, in England ging der Weg südlich von Clares Geburtsort Helpston vorbei an den Wäldchen Rice Wood und Oxey Wood, in den ehemaligen Steinbruch Swaddywell Pit und am Hilly Wood vorbei zurück ins Dorf. (Den Karten, die diese Wege genauer dokumentieren, werde ich mich im dritten Artikel dieser Reihe intensiver widmen.)

Obwohl ihre Lebenssituationen in vielen Aspekten grundsätzlich verschieden waren – Clare war vor seinem nur kurz andauernden Erfolg als Dichter ein einfacher Tagelöhner, Droste-Hülshoff stammte aus dem westfälischen Adel – erlebten beide doch zumindest subjektiv Enge und Trubel ihrer Häuser und Familien. Im Rüschhaus lebten neben der Droste sechs bis sieben weitere Personen. Das Gebäude kam ihr „klein […] nach dem großen Meersburger Schlosse vor – klein wie ein Mauseloch“ (Brief vom 12. September 1842) und sie klagte: „In Rüschhaus habe ich, Tag für Tag, Besuche empfangen, […] ich war dessen so gewohnt, daß ich nicht muckste in der Hälfte meines Verses abzubrechen, was mich manchen guten Gedanken, und manchen eben gefundenen Reim gekostet hat“ (Brief vom 18. November 1835).

Links das Rüschhaus, rechts das Gewächshaus. Der Garten dazwischen ist zu Drostes Zeiten ein Nutzgarten gewesen

Clare lebte im kleinen Helpstoner Bauernhaus zeitweise mit bis zu acht weiteren Personen zusammen in zwei Schlafräumen. Er schrieb seinem Verleger explizit über seine Flucht aufs freie Feld: „Ich finde größeres vergnügen darin, in den feldern zu wandern, als zwischen meinen stummen nachbarn zu brüten, die gleichgültig gegenüber allem außer der schufterei und dem gespräch darüber sind & das ohne sinn und zweck“ (Brief vom 5. Februar 1822).

Clare Cottage in Helpston

Diese beengten Lebensverhältnisse drinnen bilden die Folie, auf der sich draußen die Weite und Einsamkeit der Heide erst richtig entfalten konnte. Annette von Droste-Hülshoffs Beschreibung in „Bilder aus Westfalen“ liest sich hier spiegelbildlich zum Eingangszitat von Clare über Emmonsale Heath:

Aus den einzelnen Wacholderbüschen dringt das klagende, möwenartige Geschrill der jungen Kiebitze, die wie Tauchervögel im Schilf in ihrem stachlichten Asyle umschlüpfen und bald hier, bald drüben ihre Federbüschel hervorstrecken. […] wir haben alles genannt, was eine lange Tagesreise hindurch eine Gegend belebt, die keine andere Poesie aufzuweisen hat als die einer fast jungfräulichen Einsamkeit und einer weichen, traumhaften Beleuchtung, in der sich die Flügel der Phantasie unwillkürlich entfalten.

Wie bei John Clare ist die Grenze dieses Imaginationsraums allein der Horizont, der auf der weiten Heide „nur […] hier und dort von kleinen Waldungen und einzelnen Baumgruppen unterbrochen“ wird. Tiefer in diesen Imaginationsraum wird mich mein weiterer Landgang vom Rüschhaus zur Burg Hülshoff im nächsten Artikel führen.