Leben im Zwischenreich

Aufgelesen (27): Alexander Lernet-Holenias Roman „Mars im Widder“.

Am 15. August 1939 meldet sich der Reserveoffizier Wallmoden zu einer Übung bei seinem Regiment – in der festen Überzeugung, einen Monat später wieder Zivilist zu sein. Doch dann erreicht ihn ein Marschbefehl. Richtung Polen.

Wallmoden hat in der Folgezeit immer wieder das Gefühl „mit irgend etwas, wie mit einem Saum oder Zipfel seiner Kleider, in ein Räderwerk von Geschehnissen geraten zu sein“. Er beginnt, „Erzähltes und Erlebtes zu verwechseln“ und fühlt sich bisweilen „als lebe er in zwei Personen“. Der Offizier des untergegangenen Habsburgerreiches verirrt sich in Erinnerungsfetzen an die „Zeiten von einst“, die anders waren als das „gleichförmige Grau von jetzt“, philosophiert über Geisterwesen und die Undurchdringlichkeit der Zeit. Sein Abscheu vor der phantasielosen Wirklichkeit hat ihn davon überzeugt, dass sich das ganze Leben in einem Zwischenreich abspielt und niemand mit Sicherheit wissen kann, „ob wir selber tatsächlich Menschen oder eigentlich nur eine Art von Gespenstern sind“.

Die rätselhafte Baronin Cuba Pistohlkors, die der Wiener Gesellschaft allerhand pikanten Gesprächsstoff bietet, während sie offenbar einer Widerstandsgruppe angehört, könnte eine ideale Gefährtin für ihn sein. Doch über unkonzentrierte, betont halbherzige Zärtlichkeiten, die vom Erzähler als „wortlose Auseinandersetzung“ beschrieben werden, kommt das Paar nicht hinaus. Ihre Gespräche und Verabredungen zielen weit aneinander vorbei. Die Erfüllung dieser Liebe müsse in eine andere Zeit fallen, wird schließlich mutmaßt, denn Cubas ganzes Leben sei doch nichts anderes „als ein Aufschub auf eine Zeit, die immer im Kommen war und niemals kam“.

Nicht nur die Liebenden reden in diesem Roman permanent aneinander vorbei. Die verzweifelten Versuche, sich wenigstens im direkten Gespräch auf eine Verständnisebene zu einigen, sind am Ende aussichtlos.

„Was sagte sie eigentlich“, fragte Wallmoden nach einem Moment, „als Sie ihr das sagten?“
„Als ich was sagte?“
„Daß ich sie bitten ließe, an jedem Tage mit mir zu rechnen.“
„Sie sagte, daß sie Sie erwarten wolle.“
„Das sagte sie?“
„Ja.“
„Sie haben ihr also nicht etwa zu verstehen gegeben, daß es mir, Ihrer Meinung nach, nicht möglich sein werde, zu kommen?“
„Nein. Aber es ist nicht ausgeschlossen, daß sie selber dieser Meinung war.“
„Wieso? Sagte sie etwas?“
„Sie sagte nichts, aber sie könnte es gedacht haben. (…)“

Panzer im Mondlicht

Die Fähigkeit, Empfindungen, bloße Momentaufnahmen oder ein Lebensgefühl auf unverwechselbare Weise sprachlich zu fixieren, gehörte sicher zu Lernet-Holenias größten Talenten. Wem noch der Fluss San in den Ohren klingt, der in der Novelle „Der Baron Bagge“ (1936) so laut rauscht, als ob er Glasscherben statt Wasser mit sich führt, kann in „Mars im Widder“ der „Woge des Spätsommers“ begegnen, die sich in den Straßen überschlägt, oder einem tropfenden Wasserhahn dabei zuhören, wie er eine nicht mehr vorhandene Zeit in gleichmäßige Intervalle zerlegt.

Hochgradig poetisch, aber auch diffus, zwielichtig, phantastisch und bisweilen versponnen, weltfremd und realitätsverdrängend ist das alles, doch mit dem 10. Kapitel ändert sich vorübergehend die Tonlage. Die Kriegsgefahr, die der Titel des Romans astrologisch andeutet, wird nun endgültig Realität. Unmittelbar bevor die Panzer über die polnische Grenze rollen, beobachtet Wallmoden eine unheimliche Wanderung von Flusskrebsen.

Der Zug, schabend und schleifend, rasselnd und klirrend wie ein Geschwader von Gerüsteten, bewegte sich dahin, eine Summe unzählbar vieler Bewegungen, und schien unaufhaltsam, es war, als sei es ein einziges Tier, das über die Straße krieche, die Fühlfäden tasten, die Augen starrten und die Panzer glänzten im Mondlicht.

Es ist natürlich keine simple Beleuchtung, sondern ein „veilchenfarbenes, fast krankhaftes Licht“, das auf diese Szenerie träufelt. Wenig später wimmelt das Land von Fahrzeugen und Menschen. Die Luft dröhnt, Dörfer brennen und Zivilisten, die sich gegen die angreifenden Truppen verteidigen wollen, werden hingerichtet. Der Autor, der wie sein literarisches alter ego kurz vor dem deutschen Überfall auf Polen zum Militärdienst eingezogen wurde und den Roman in der vergleichsweise kurzen Zeitspanne zwischen dem 15. Dezember 1939 und dem 15. Februar 1940 niederschrieb, lässt keinen Zweifel daran, wer hier Täter und wer Opfer ist und dass von einer heroischen Bewährungsprobe auf dem Feld der Ehre keine Rede sein kann. Die Deutschen (und Österreicher) bringen Tod und Zerstörung über das „zerschmetterte Land“, doch Wallboden ahnt bereits, dass der brutale Aggressor von der Katastrophe, die er ausgelöst hat, nicht verschont bleibt.

Diese Sicht der Dinge kommt in der phantasielosen Wirklichkeit der nationalsozialistischen Machthaber nicht gut an. Die Buchausgabe des Romans „Mars im Widder“, der zunächst in der Zeitschrift „Die Dame“ erscheint, wird 1941 vor der Auslieferung verboten. Die 15.000 Exemplare der Erstauflage gehen während eines Luftangriffs auf Leipzig in Flammen auf, „Mars im Widder“ erscheint so erst 1947. Aber Wallmoden überlebt Krieg und Zerstörung auch innerhalb des Romans, möglicherweise weil er – wie sein Autor – die finale Konfrontation mit der Diktatur vermeidet. Der Protagonist flüchtet stattdessen in eine neue, unwirkliche Liebesgeschichte, die auf geheimnisvolle Weise mit der früheren verbunden ist.

Doch besteht kein Zweifel, daß wir – und wie oft! – auf Augenblicke, auf Tage, ja manchmal auf lange Zeit in ganz anderen Reichen sind, wenngleich wir meinen, hier zu sein, und daß wir dort ein Leben führen und Dinge tun, von denen wir nichts wissen. Aber wir führen es, dieses Leben, und vielleicht ist es das wirkliche.

„Gar keine Tiefe, aber immer noch Grazie“

Anmut und Eleganz bescheinigte Stefan Zweig selbst den schwächeren Werken von Alexander Lernet-Holenia, doch Richard Strauss, dem er den Schriftsellerkollegen als Librettisten empfehlen wollte, lehnte das freundliche Anerbieten ab. Gelobt, viel gelesen, aber stets umstritten blieb der 1897 geborene Lernet-Holenia bis zu seinem Tod im Jahr 1976.

Sein opulentes Oeuvre umfasst Romane, Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke und Drehbücher. Einige der bekanntesten Werke – „Der Baron Bagge“ und „Mars im Widder“, aber auch „Ich war Jack Mortimer“ (1933), „Die Standarte“ (1934), „Ein Traum in Rot“ (1939) – erschienen zwischen 1933 und 1945. Seine Bücher wurden im Dritten Reich zwar immer wieder angefeindet, er durfte aber weiter als Schriftsteller und Drehbuchautor arbeiten und regelmäßig publizieren.