Religiöser Kitsch mit sentimentalem Geigensolo – Jules Massenets Oper „Thaïs“ scheint keine ideale Wahl für die Opernbühnen des 21. Jahrhunderts zu sein. Doch wenn der Regisseur Peter Konwitschny heißt, sieht die Sache schon wieder anders aus.
„Thaïs“ ist drastische Kürzungen gewohnt. Schließlich hat von der knapp zweieinhalbstündigen Oper ohnehin nur die sechsminütige „Méditation“ überlebt, die zur Entschädigung für das große Ganze durch Kaufhäuser und Kurkonzerte geschleift wird. Peter Konwitschnys Ausflug in exotische Gefilde währt gut 100 Minuten. Die reichen allerdings aus, um auf einer nahezu leeren Bühne die Stationen eines langen Scheiterns zu inszenieren.
Der schwarzgeflügelte Ordensbruder Athanaël, der die rotgeflügelte Kurtisane Thaïs auf den rechten Weg eines vermeintlich gottgefälligen Lebens zurückführen will, verliert sich selbst im Labyrinth von eigenen Ansprüchen, fremden Moralvorstellungen und den Verlockungen eines Lebens, dem zu folgen er sich verbietet.
Der besseren Gesellschaft, die sich um die Kurtisane versammelt hat, um Luxus, Reichtum und endloses Amüsement zu feiern, geht es jedoch nicht besser. Auch ihre Schwingen sind nicht mehr flugtauglich. Der letzte Exzess ist ausgekostet, der ultimative Rausch verflogen, die Schraube dreht sich nur noch um sich selbst.
Was bleibt Thaïs? Der Blick in leere Seelen – und ein Cupido mit roter Irokesenfrisur, der aus Langeweile oder Verzweiflung unter die Konfetti-Dusche flieht. Und nachdem Athanaël den kleinen Liebesgott niedergeschossen und Thaïs gewaltsam aus den Fängen ihrer vermeintlichen Peiniger befreit hat, kehren sich die Rollen auch noch um. Thaïs nimmt das zwielichtige Heilsversprechen plötzlich an, während ihr Mentor von einer Erlösung im Jenseits nichts mehr wissen will. Aber für einen neuerlichen Seitenwechsel bleibt schließlich keine Zeit mehr …
Peter Konwitschnys ebenso schlüssige wie schnörkellose Inszenierung, die im Januar 2021 ohne Publikum aufgezeichnet wurde, ist ein überzeugender Beweis für die Bühnentauglichkeit der Oper. Umso schöner, dass Leo Hussain das Regiekonzept am Pult spiegelt. Mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien entwirft er ein kitschfreies, überraschend schlankes und höchst transparentes Klangbild, in dem die „Méditation“ zum Motor der Handlung werden kann.
Abgerundet wird die Produktion durch drei herausragende Solisten. Nicole Chevalier treibt Thaïs mit phantastischen Nuancen durch alle Höhen und Tiefen ihres manisch-depressiven Daseins, Josef Wagner (Athanaël) zeigt die Abgründe der Besessenheit unter dem Deckmantel der Nächstenliebe und Roberto Saccà (Nicias) gibt den verständnislosen Parvenü, der nicht bereit ist, sich durch beschränkte Wahrnehmung von irgendetwas abhalten zu lassen.
Kein Zweifel: Die nächste Einstudierung wird mit dieser verglichen werden. Das sollte allerdings niemanden davon abhalten, „Thaïs“ wieder auf den Spielplan zu setzen.
Jules Massenet: Thaïs, DVD / Blue-Ray, Unitel Edition