Alle Jahre wieder taucht ein Ungeheuer aus der Tiefe des Meeres auf, um ein seltsames Strafgericht zu veranstalten. Doch so schnell wie es gekommen ist, verschwindet es auch wieder.
Was den Kraken „aus eines Wirbels Schlunde“ an die Oberfläche zieht, wird nicht ganz klar. Doch wenn Tier und Mensch ihm in die Quere kommen, hat ihre letzte Stunde geschlagen.
Wir erfahren, dass der mörderische Krake nicht viel vom Erdenleben hält. Die Welt ist ihm „Schablone“ und, schlimmer noch, eine Kloake. Wenn er es genau betrachtet – und eine Zeile lang ist ihm´s ja tatsächlich, „als ob er denke“ – sind Fortpflanzung und Verdauung die einzigen Zwecke des menschlichen Daseins.
Doch am Ende zieht die Unmenge negativer Energie den Ankläger selbst in den Abgrund. Die ruhige Meeresoberfläche erweckt nicht den Eindruck, als ob irgendetwas Besonderes geschehen wäre.
Der Krake
Einmal im Jahr vom Grunde
Des Meeres wird nach oben,
Aus eines Wirbels Schlunde
Der Krak heraufgehoben,
Gleich einem Inselrunde,
Um das die Wasser toben.Eisbären, Robben, Haie,
Wallfische, Fischernachen
Verschwinden nach der Reihe
In seinem Riesenrachen.
Und daß es ihm gedeihe,
Beweist sein grimmig Lachen.Es glüht die kalte Zone
In jeder Eisbergzacke,
Und mit dem frechsten Hohne
Lallt hochvergnügt der Krake:
„Die Welt ist mir Schablone,
Die Welt ist nur Kloake.“Zweihundert Austernbänke
Verschlingt er nun mit Wonne,
Und Cognak zum Getränke,
Und Arak manche Tonne,
Ihm ist’s, als ob er denke,
Er blinzelt in die Sonne.Ja, ruft er, und die grauen
Kinnladen kau’n und rollen,
So viel wir Wesen schauen,
Was ist es, was sie wollen?
Sich gatten und verdauen –
Das ist’s auch, was sie sollen!Nach solch erhabner Lehre
Bewegt er Haupt und Glieder,
Da zieht ihn schon die Schwere
Zur grausen Tiefe nieder,
Und auf dem weiten Meere
Ist Alles ruhig wieder.
Der Autor
Die Revolution von 1848 spielte eine Schlüsselrolle im Leben des Hermann Lingg. Er war als Militärarzt in die bayerische Armee eingetreten, sympathisierte aber mit den Aufständischen, die sich für Freiheit und demokratische Werte einsetzten. Die inneren Konflikte mündeten in einem Zusammenbruch, von dem er sich wohl nie vollständig erholte. Seine Pensionierung im Jahr 1853 war allerdings auch der Beginn eines neuen Lebens.
Ein Jahr später erschien die erste, von Emanuel Geibel begeistert eingeleitete Ausgabe seiner Gedichte, der viele weitere lyrische Texte, aber auch Prosaarbeiten und Dramen sowie das Epos „Die Völkerwanderung“ folgten. Hermann Lingg, ab 1890 Ritter von Lingg, war Mitglied des Münchner Dichterkreises „Die Krokodile“, dem er das namengebende Gedicht „Das Krokodil von Singapur“ widmete. Er starb 1905 im Alter von 85 Jahren in München.