Louise Otto-Peters ging es immer um die Sache. Auch den Neujahrstag nahm sie zum Anlass, den Feinden der Lichtverächter wieder etwas Mut zu machen.
Dass wir alle nicht wissen, was die Zukunft bringt, kleidet Otto-Peters in ein eigenwilliges Bild aus der Zeit der Industrialisierung: Kein Arm kann in das Getriebe greifen, das die Fäden des Schicksals senkt und hebt. Es geht ständig auf und ab – und der Einfluss der Einzelnen ist eng begrenzt, soll das wohl heißen, doch aus dieser fatalistischen Weltbetrachtung scheint es dann doch einen Ausweg zu geben.
Im zweiten Teil des Gedichts nimmt der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand. Statt in stiller Erwartung auf die Entscheidung der Machtzentralen zu schauen, bauen „wir“ uns einen eigenen Himmel und halten den „Lichtverächtern“, die auf einfache Wahrheiten und dumpfe Instinkte setzen, eine klare Vorstellung von Vernunft, Freiheit, Mitmenschlichkeit und Selbstbestimmung entgegen. Kein leichter, aber ein guter Start in das neue Jahr!
Jahreswechsel
Wenn hoch vom Turm die Glocken klingen,
In mitternächtlich ernster Stund‘
Des Jahres Scheidegruß zu bringen:
Dann lauschen wir, als werd‘ uns kund,
Was nun der neue Lauf der Horen
Uns Erdenpilgern bieten mag –
Das Jahr ward neuverjüngt geboren
Und festlich grüßt sein erster Tag.Doch ist vergeblich alles Fragen,
Die Antwort lautet immer gleich:
Propheten sind aus unsern Tagen
Verbannt ins dunkle Sagenreich.
Kein Blick darf in die Werkstatt schweifen,
In der des Menschen Los sich webt,
Kein Arm in das Getriebe greifen,
Das Schicksals-Fäden senkt und hebt!Das mußten alle wir erfahren
In unsrer Lieben engem Kreis –
Gebrochen müssen wir gewahren
Manch hoffnungsgrüne frisches Reis,
Und wo wir’s ahnend kaum vermutet,
Da kam uns Rettung aus der Not,
Indessen dort ein Herz verblutet
Weil ihm sein Liebstes nahm der Tod!Nur eitel ist das ird’sche Hoffen
Das sich an äußre Zeichen hält,
Ist nicht in uns ein Himmel offen,
Von dem kein Stern herunterfällt.
Wie sehr auch Sturm und Donner wettert
Und frische Hoffnungssaat zerschlägt
Und alle Rosen uns entblättert,
Wie Staub in alle Winde trägt.Ein Himmel, den wir sicher schauen,
Wenn sich der Blick nur aufwärts hebt,
Ein Himmel, den wir selber bauen,
Wenn wir zum höchsten Ziel gestrebt,
Ein Himmel, draus seit Ewigkeiten
Zu uns die Schöpfungsformel spricht,
Die heiligste für alle Zeiten
Kein Chaos mehr! – es werde Licht!Kein Chaos mehr – in unserm Leben,
Kein Chaos mehr im Vaterland!
Es werde Licht, – dies unser Streben,
Die Waffe dies in unsrer Hand
Des Gottesfunkens treue Wächter
An heil’ger Freiheit Hochaltar,
Und Feinde aller Lichtverächter:
So grüßen wir das neue Jahr.
Zur Autorin
Das Elend der deutschen Industriearbeiter, mit dem sie sich in Gedichten wie „Die Klöpplerinnen“ (1850) und Romanen wie „Schloß und Fabrik“ (1846) auseinandersetzte, war das eine Lebensthema der 1819 in Meißen geborenen Louise Otto. Noch größere Aufmerksamkeit wurde ihr als Mitbegründerin und prominente Vertreterin der deutschen Frauenbewegung zuteil. Zeit ihres Lebens setzte sich Otto-Peters für die Rechte von Frauen auf Gleichberechtigung, freie Bildung und Erwerbsarbeit ein. Ihre schriftstellerischen und publizistischen Arbeiten wurden immer wieder verboten oder um entscheidende Passagen gekürzt. Der Roman „Schloß und Fabrik“ erschien erst 1996, 150 Jahre nach seiner Entstehung, erstmal in einer unzensierten Fassung. Louise Otto-Peters war zu diesem Zeitpunkt schon seit einem Jahrhundert tot – sie verstarb 1895 in Leipzig.