#lyrik: Lied eines alten Juden

Es ist durchaus möglich, dass der „große, weise Gärtner“, der in diesem Gedicht über die menschlichen Dinge wacht, nicht zwischen seinen Blumen unterscheidet und alle gleichermaßen ins Herz geschlossen hat. Doch für seine Zöglinge scheint das bis heute keine große Rolle zu spielen.

Selbst im Zeitalter der Aufklärung hatte ein Text wie dieser Seltenheitswert. Johann Baptist von Alxinger setzt sein lyrisches Ich nicht nur ganz allgemein gegen Vorurteile und Antisemitismus ein. Er beginnt bereits eine gesellschaftspolitische Analyse, spricht über soziale Ausgrenzung und die gezielte Verhinderung von Bildungsmöglichkeiten und beruflicher Selbstbestimmung.

Lied eines alten Juden

Wer bist du denn, der Meer und Land
Despotisch sein nennt, dessen Hand
In Ketten unsre Hände schließt?
Wer bist du denn, du stolzer Christ?

Gehört der Jude nicht, wie du,
Dem großen, weisen Gärtner zu,
Der will, dass Blumen gleich um ihn
Religionen keimen, blühn?

Nicht mich beklag‘ ich: wessen Haar
So silbern ist, dem winkt die Schar
Der Väter schon, sein nahes Los
Ist, sanft zu ruhn in Abrams Schoß.

Nur unsrer Jugend jammert’s mich;
O niemals, niemals drängt sie sich
Bis zu der Weisheit Altar vor:
Ihr schließt ihr ja des Tempels Tor.

Zwar tadelt ihr den Julian1,
Doch tut ihr mehr, als er getan;
Ihr hebet euch zu stolzen Höhn,
Wir müssen in dem Tale stehn.

Zum Rechnen habt ihr uns verdammt;
Von dem, was Tugenden entflammt,
Wodurch der Geist sich schwingen lernt,
Von dem habt ihr uns stets entfernt.

Und wenn der Jude, wie der Christ,
Vom Geiz verführet, sich vergisst;
Dann schimpfet ihr und spuckt uns an:
Das schmerzt mich so, mich alten Mann!

Den ihr als einen Gott verehrt,
Der hat euch das wohl nicht gelehrt,
Denn Liebe nur war sein Gebot,
Die war sein Leben und sein Tod.

 

1  Diese Passage bezieht sich auf einen Vorwurf des Historikers Ammianus Marcellinus, demzufolge der römische Kaiser Julian (331 oder 332 – 363) den Lehrern der Philosophie und Redekunst die Annahme christlicher Schüler untersagt habe. Alxinger hält diese Behauptung für widerlegt.

 

Der Autor

Johann Baptist von Alxinger stammte aus einer wohlhabenden Wiener Familie und musste mit seiner akademischen Ausbildung kein Geld verdienen. So betätigte sich der promovierte Jurist, der sich den Idealen der Aufklärung verschrieben hatte, als Herausgeber, Übersetzer sowie als Autor von Versepen und Gedichten.
Einige seiner Werke provozierten neben dem Publikum auch die Zensurbehörden, so zum Beispiel das kirchenkritische Gedicht „Der Coelibat“, in dem Gott mit der Aufkündigung des menschlichen Gehorsams gedroht wird, oder die Generalabrechnung „Die Priester Gottes“.
Johann Baptist von Alxinger wurde nur 42 Jahre alt, er starb 1797 in seiner Geburtsstadt Wien.