#lyrik: Neujahrslied

Als er Freude und Schmerz traulich durch die Zeiten ziehen ließ, erfand Johann Peter Hebel eines der berührendsten Paare der deutschsprachigen Lyrik. Grundverschieden, aber doch unzertrennlich und immer aufeinander angewiesen.

So ist Hebels Neujahrsgruß denn auch keiner, der die Psyche gleich am ersten Tag des Jahres schon wieder selbstoptimiert und uns zwingt, nur positiv denkend in die Zukunft zu starten. Ein gutes Jahr verspricht uns der alte Romantiker trotzdem – sofern es uns gelingt, die wilde Mischung des Lebens anzunehmen und neben dem Sinn für die Freuden auch den Mut für die Leiden aufzubringen.

Vier Begleiter werden uns in der letzten Strophe empfohlen. Mit Freundschaft, Zufriedenheit, Herzensgüte und Hoffnung soll der Pfad des Lebens in den kommenden 12 Monaten ein erfreulicher sein.

Johann Peter Hebel: Neujahrslied

Mit der Freude zieht der Schmerz
Traulich durch die Zeiten.
Schwere Stürme, milde Weste,
Bange Sorgen, frohe Feste
Wandeln sich zur Seiten.

Und wo eine Thräne fällt,
Blüht auch eine Rose.
Schön gemischt, noch eh’ wir’s bitten,
Ist für Thronen und für Hütten
Schmerz und Lust im Loose.

War’s nicht so im alten Jahr?
Wird’s im neuen enden?
Sonnen wallen auf und nieder,
Wolken gehn und kommen wieder,
Und kein Wunsch wird’s wenden.

Gebe denn, der über uns
Wägt mit rechter Wage,
Jedem Sinn für seine Freuden,
Jedem Muth für seine Leiden,
In die neuen Tage.

Jedem auf des Lebens Pfad
Einen Freund zur Seite,
Ein zufriedenes Gemüthe,
Und zu stiller Herzensgüte
Hoffnung in’s Geleite.

 

Der Autor

Johann Peter Hebel, 1760 in Basel geboren, studierte evangelische Theologie und arbeitete als Pädagoge und Geistlicher, ehe ihm 1803 mit den im Dialekt verfassten „Alemannischen Gedichten“ der literarische Durchbruch gelang. Noch populärer wurden seine Kalendergeschichten, aus denen er 1811 das „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“ zusammenstellte.
Hebel wurde Direktor des Karlsruher Gymnasiums, Prälat der evangelischen Landeskirche in Baden, Mitglied der 1. Kammer des badischen Landtags und der kirchlichen Generalsynode. Er starb 1826 in Schwetzingen.