#lyrik: Schifferlied der Wasserfee

Dieses Fabelwesen hat es eilig. Seine Erlebnisse dauern immer nur einen Wimpernschlag und reichen doch für ein ganzes Leben.

Kaum ist der Reim gefunden oder wenigstens anvisiert, springt das Gedicht in die nächste Zeile. 22 sind es an der Zahl, in die gerade einmal 56 Wörter passen. Da wird jemand gezogen, geht aber auch sorgenlos vorwärts, weil das Schicksal ohnehin das letzte Wort hat.

Ludwig Tieck: Schifferlied der Wasserfee

Auf Wogen
Gezogen,
Von Klängen
Gesängen
Durch Strahlen gelenkt:
Die Wellen,
Die hellen
Gewölke, von Morgenröthe getränkt;
Die Töne,
Die Schwäne,
Die säuselnden Lüfte,
Die blumigen Düfte,
Sich alles zum Grusse entgegen mir drängt.
Ohn Sorgen
Nur weiter,
Wie heiter
Der Morgen!
Fließ Bächlein,
Fahr Schifflein
Ohn Sorgen
Nur weiter,
Begegnet doch alles wie Schicksal verhängt.

Der Autor

Ludwig Tieck, 1773 in Berlin geboren und kurz vor seinem 80. Geburtstag ebendort verstorben, gehörte zu den prägenden Gestalten der Deutschen Romantik. Seine Märchendichtungen, allen voran „Der gestiefelte Kater“ (1797), erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit, während der opulente Rest seines Schaffens, darunter die Romane „William Lovell“ (1795–96), „Franz Sternbalds Wanderungen“ (1798) oder „Vittoria Accorombona“ (1840), heute vor allem Fachwissenschaftler beschäftigen.
Das „Schifferlied der Wasserfee“ entstand 1797, 29 Jahre später wurde es von Louis Spohr vertont. Die knapp 90 atemlosen Sekunden gehören zum Zyklus „Sechs deutsche Lieder op. 72“.