#lyrik: Tränen des Vaterlandes

1618 begann der bis dahin verheerendste Krieg in Europa, der Millionen Menschen das Leben kosten und weite Teile des Kontinents verwüsten sollte. 30 Jahre später waren sich die Überlebenden darin einig, dass Vergleichbares nie wieder geschehen dürfe.

Doch der „Westfälische Friede“ von 1648 war nicht von Dauer. Auch in den folgenden Jahrhunderten zerstörten Macht- und Herrschaftsphantasien, lebensfeindliche Ideologien, Hass und Besitzgier unzählige Menschenleben. Fast vier Jahrhunderte nach Inkraftreten der ersten europäischen Friedensordnung sind Angriffskriege – mitten in Europa – immer noch möglich, wie der vom russischen Präsidenten Wladimir Putin befohlene Überfall auf die Ukraine beweist.

Was Andreas Gryphius, der die Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs aus nächster Nähe erlebte, am meisten erschütterte, war der Verlust des „Seelenschatzes“. Der Begriff bleibt bis heute rätselhaft. Aber der weltoffene Dichter dachte sicher nicht nur an Religionen und Konfessionen. Sondern vor allem an die menschliche Fähigkeit, Gutes zu tun, Mitleid, Respekt und Vertrauen zu empfinden, Hass und Gewalt zu überwinden. Damit die Krieger nicht das letzte Wort haben, muss dieser Seelenschatz immer wieder zurückgewonnen werden.

Andreas Gryphius: Thränen deß Vaterlandes Anno 1636

Wir sind doch nunmehr gantz / ja mehr denn gantz verheeret!
Der frechen Völcker Schaar / die rasende Posaun
Das vom Blutt fette Schwerdt / die donnernde Carthaun.
Hat aller Schweiß / vnd Fleiß / vnd Vorrath auff gezehret.

Die Türme stehn in Glutt / die Kirch ist vmbgekehret.
Das Rahthaus ligt im Graus / die Starcken sind zerhaun.
Die Jungfraun sind geschänd’t / vnd wo wir hin nur schaun
Ist Feuer / Pest / vnd Tod / der Hertz vnd Geist durchfähret.

Hier durch die Schantz vnd Stadt / rinnt allzeit frisches Blutt.
Dreymal sind schon sechs Jahr / als vnser Ströme Flutt /
Von so viel Leichen schwer / sich langsam fortgedrungen

Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod /
Was grimmer denn die Pest / vnd Glutt vnd Hungersnoth
Das auch der Seelen Schatz / so vielen abgezwungen.

 

Der Autor

Andreas Gryphius, 1616 in Glogau geboren und eben dort 1664 gestorben, war einer der sprachmächtigsten Dichter des Barockzeitalters. Vor allem in seinen Gedichten gelang es ihm, die prägenden Erfahrungen der Zeit – Krieg, Gewalt und Verfolgung – in bewegende Worte und Bilder zu fassen. Gryphius inszenierte die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens in unzähligen Variationen. Er beschwor aber auch die Sehnsucht nach Frieden und einer Zeit, in der – wie es im Sonett „Mittag heißt“ – das Licht regiert, während der schwarze Schatten in die Hölle flieht.