Machtkämpfe im Setzkasten

„Maria Stuart“ ist sicher jeden bühnentechnischen Aufwand wert. Zum Kern des genialen Klassikers führt aber auch ein Weg weitgehender Reduktion. So geschehen in der Inszenierung von Anne Lenk, die 2021 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde und auch auf DVD eine bestechende Wirkung entfaltet.

Es geht um Macht und Gerechtigkeit, persönliche Vorteile und öffentliches Ansehen, vor allem aber um die Deutungshoheit über ein Geschehen, dass immer mehr außer Kontrolle gerät. Politisch überleben kann das nur, wer starke, verlässliche Partner an seiner Seite hat. Doch genau daran mangelt es den Protagonisten, die an der Spitze der Gesellschaft menschlich vereinsamen: Maria Stuart hat nach dem Mord an ihrem Ehemann schon in der schottischen Heimat jeden Rückhalt verloren und findet im englischen Exil nurmehr Schwärmer und Glücksritter. Ihre königliche Gegenspielerin wird von dienstfertigen Ratgebern geradezu umzingelt. Doch die Interessen von Burleigh, Leicester oder Shrewsbury decken sich nur bedingt mit denen der Krone – und mit denen Elisabeths schon gar nicht.

Anne Lenk steckt die zehn wichtigsten Figuren des Dramas folgerichtig in Setzkästen, in denen die nächste Wand nur eine Armlänge entfernt ist. Abgesehen von zwei (katastrophal verlaufenden) Begegnungen gibt es in dieser Inszenierung des Deutschen Theaters Berlin keinen Weg zueinander. Alle Figuren nehmen in erster Linie sich selber war und entwickeln ihre eigenen Ideen, Impulse, Wahnvorstellungen und Schattenbilder. Der Regieansatz ist aber nicht nur inhaltlich konsequent, sondern trotz starker Kürzungen auch ein Vertrauensbeweis in die ungeminderte Kraft des Originaltextes, der in dieser konzentrierten Darbietung seine Klarheit, Brillanz und Enthüllungskraft beweist.

Durch die optische Akzentuierung, die in der Fernsehregie von Andreas Morell noch unterstrichen wird, ist diese Inszenierung in besonderer Weise auf herausragende Hauptdarstellerinnen angewiesen. Julia Windischbauer (Elisabeth) und Franziska Machens (Maria) liefern sich ein packendes Duell, das Wut, Hass und Verzweiflung, aber auch Anfälle von Hilflosigkeit, Peinlichkeit, ja sogar Albernheit auf die Bühne bringt. In den weiteren Rollen verfolgen überzeugend auftretende Männer ihre eigenen Ziele: Enno Trebs (Burleigh), Alexander Khuon (Leicester), Jörg Pose (Shrewsbury), Paul Grill (Paulet) Caner Sunar (Aubespine/Davison) und Jeremy Mockridge (Mortimer/Melvil).

Friedrich Schiller: Maria Stuart, DVD, Theater Edition, Naxos

Die Inszenierung ist weiterhin am Deutschen Theater Berlin zu sehen. Die nächsten Aufführungen finden am 18. Oktober und 13. November 2022 statt.