Im Kreis der populären Barockkomponisten ist er noch nicht angekommen, doch nach und nach kehren Werke von Thomas Selle (1599-1663) in das Konzertleben zurück. Eine bewegende Aufnahme der „Johannespassion“ dürfte das Interesse an dem Hamburger Musikdirektor weiter steigern.
Eine Schneise der Verwüstung zog sich durch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, doch Hamburg wurde vom Dreißigjährigen Krieg verschont. Gewaltige Befestigungsanlagen und das Verhandlungsgeschick der Bewohner schützten die Hansestadt vor Mord, Gewalt und Brandschatzung.
Auch das Kulturleben blühte annähernd wie in Friedenszeiten. Thomas Selle, 1599 in Zörbig geboren und ab 1641 Musikdirektor der vier Hamburger Hauptkirchen, gehörte zu seinen einflussreichsten Persönlichkeiten und setzte neue Maßstäbe in der Vertonung sakraler Texte. Selle experimentierte mit dem Generalbass, stellte einzelne Instrumente zur Charakterisierung unterschiedlicher Figuren ab, ließ sich überdies von italienischen Vorbildern inspirieren und schuf mit den „Intermedien“ eindrucksvolle Chorsätze, die als eine Art Reflexionsbasis zum fortlaufenden Geschehen fungieren.
Die 1643 entstandene „Johannespassion“ würde ohne die drei Intermedien nur eine Viertelstunde dauern. Die Gesamtaufnahme mit Dantes Diwiak (Evangelist), Janno Scheller (Jesus), Johannes Euler (Pilatus), dem Göttinger Barockchor und dem Göttinger Barockorchester unter Antonius Adamske enthält folgerichtig alle drei Verbindungsstücke und – als Rahmen – die Motetten „Die Erd ist des Herren“ und „Lobet den Herren“.
Sänger und Instrumentalisten überzeugen mit einer feinziselierten und gleichwohl farbenprächtigen Interpretation, die Selles Rang in der Musikgeschichte des 17. Jahrhunderts nachdrücklich unterstreicht. Bemerkenswert ist das empathische Potenzial dieses Werkes, das abseits der mörderischen Schlachten eines sinnlosen Krieges vom tiefen Verständnis für menschliches Leid zeugt. „Ich bin ausgeschütt wie Wasser“, heißt es im zweiten Intermedio,“ „Alle meine Gebeine / Haben sich zertrennet; / Mein Herz ist in meinem Leibe / Wie zerschmolzen Wachs.“
Thomas Selle: Johannespassion (mit Intermedien), Coviello