Die „Goldberg-Variationen“ oder die „Kunst der Fuge“ gelten als Belege für ein überragendes und schlichtweg geniales Strukturbewusstsein. Doch in den sieben Toccaten vertraute Johann Sebastian Bach auch auf sein Improvisationstalent. Jonathan Ferrucci hatte bei der Einspielung jedenfalls das Gefühl, mit dem Meister zu komponieren.
„Die Fugen müssen natürlich die Strenge einer Fuge behalten, sonst verliert man den Puls und die Intensität der Musik“, meint Jonathan Ferrucci. Der italienisch-australische Pianist, der seit jeher ein besonderes Verhältnis zu Johann Sebastian Bach pflegt, betrachtet also auch die Jugendwerke nicht als reines Experimentierfeld. Gleichwohl bieten die Toccaten – vor allem in den langsamen Abschnitten und den schwebenden Überleitungen – die seltene Möglichkeit, das Tempo selbst zu entwickeln, Verzierungen anzubringen und die Noten als eine Art Improvisationsgrundlage zu nutzen.
„Mir kommt es beim Spielen vor, als würde ich die Musik zusammen mit Bach im Moment komponieren“, sagt Ferrucci und nutzt die Chance, die Beziehung zwischen Interpret und Komponist noch einmal zu intensivieren. So entsteht eine kristallklare, dann wieder fluoreszierende, von jugendlichem Elan mitunter überschwemmte Klangfläche, vor der die Zuhörer den Eindruck bekommen, als ob sie nicht der Interpretation, sondern der Entstehung der Toccaten beiwohnen.
Trotz des modernen Zugriffs und dem Wechsel vom barocken Cembalo auf einen Yamaha-Flügel will Ferrucci der Spieltechnik der Bach-Zeit so nah wie möglich kommen. Dabei schlägt er einen Bogen über drei Jahrhunderte, der eine außergewöhnliche Begegnung ermöglicht. Das spannende Experiment genügt auch klangtechnisch hohen Ansprüchen. Die transparente, viele Details veranschaulichende Aufnahme entstand 2023 im Schafstall der Abtei Marienmünster.
Johann Sebastian Bach: Toccaten BWV 910-916, audite