Bei dem Polyphon handelt es sich um ein mechanisch ablaufendes Musikinstrument aus der Zeit des späten 19. Jahrhunderts, das zur Gruppe der selbstspielenden Musikinstrumente gehört. Die Mechanik fußt auf gelochten und frei austauschbaren Metallplatten, die Musik automatisch wiedergeben. Es ist ein Vorläufer moderner Musikabspielgeräte wie das Grammophon oder später der Plattenspieler und heute praktisch vergessen. Die Bezeichnung „Polyphon“ setzt sich aus den griechischen Begriffen „poly“ (viel) und „phon“ (Klang) zusammen, die also „vielstimmig“ bedeutet.
Bei diesem Gerät handelt es sich um eine in ihrer Zeit erstaunliche Innovation, die unter anderem auf der Pariser Weltausstellung 1900 als eine wahre Attraktion gefeiert wird. In Folge der industriellen Revolution ist das Polyphon eine typische Erfindung im Geist des allgemeinen Fortschritts. Seine Erfindung baut auf einer mehr als zweitausend Jahre alten Tradition auf, denn mindestens so lange erfinden Menschen in Indien, China und Europa Konstruktionen, die Töne und Musik ohne menschliches Zutun erzeugen.
Bereits in antiker Zeit können Töne und Musik durch das Zusammenspiel von Wasser und Luft hervorgebracht werden. Ktesibios von Alexandria verfasst im 3. Jahrhundert v. u. Z. eine Schrift über die Wirkkraft der Pneumatik (des Einsatzes von Druckluft). Ktesibios zieht ebenso die analoge Wirkkraft von Wasserdruck heran und mit diesem Wissen entwickelt er die wahrscheinlich erste Orgel der Geschichte überhaupt: die Hydraulis oder Wasserorgel. Wasserstände regulieren bei diesem Gerät unterschiedlichen Luftdruck, der durch Pfeifen dringt, die ihrerseits Töne erzeugen. Aus der Hydraulis entwickelt sich später die europäische Kirchenorgel. Auf dieser mechanischen Grundlage entstehen in der griechischen Antike heute nicht mehr genau bekannte Automaten, die als singende Vogelattrappen beschrieben werden, unter anderem von Heron von Alexandria im 1. Jahrhundert v. u. Z.
Im Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert werden immer mehr und immer feinere mechanische Musikinstrumente entwickelt. Vor allem die höfische Kultur treibt mit ihrer Bevorzugung des Erstaunlichen und Bizarren die Produktion von mechanischen Musikinstrumenten an, so Flötenuhren, die in aufwändigen Gehäusen eingebaut sind. Oder komplizierte Walzenspielwerke, deren Betrieb aus rotierenden Walzen mit Metallstiften besteht, die Instrumentensaiten anzupfen.
Hierauf setzt die Entwicklung des Polyphons an, seine wesentliche Erneuerung ist die austauschbare große, runde Metallplatte mit ihren gestanzten Löchern – dieses Herzstück des Polyphons ist mit einer Vielzahl von kleinen Löchern und Erhebungen versehen. Die Höhen auf der Platte entsprechen den Tonhöhen und Rhythmen des Stücks, während die Mechanik des Polyphons die Platte abtastet und so die Musik erklingen lässt. Für jedes Musikstück gibt es eine eigene Metallplatte, die durch einen Mechanismus in Drehung versetzt wird.
Das Polyphon wird in den 1870er Jahren in Deutschland durch die Brüder Gustav und Paul Lochmann erfunden, die die Polyphon-Musikwerke AG gründen. Das Polyphon ist ein Produkt einer durch und durch bürgerlichen Zeit. Durch seine Erfindung ist es möglich, Musik stärker in die Bevölkerung zu tragen, ja überhaupt zu reproduzieren und somit denjenigen zugänglich zu machen, die selten oder nie Konzerte besuchen. Es bietet breiten gesellschaftlichen Schichten die Möglichkeit, Musik in hoher Qualität zu genießen, sogar zu Hause. Es gibt Modelle für den privaten Gebrauch und größere Varianten für öffentliche Räume in Cafés, Hotels oder Theaterfoyers, zuweilen mit Münzeinwurf. Die größeren Modelle können bis zu zwei Meter hoch sein und beeindrucken nicht nur durch ihre Klangfülle, sondern auch durch kunstvoll verzierte Gehäuse aus edlen Hölzern. Oft werden sie zusätzlich mit Glasfronten ausgestattet, die den Blick auf die rotierende Metallplatte freigeben – ein faszinierender Anblick für die damaligen Zuhörerinnen und Zuhörer.
Die Variabilität des Polyphons wird schon bald durch neue Erfindungen übertrumpft, denn als die erste Schallplatte Anfang des 20. Jahrhunderts herauskommt, sind die Tage des Polyphons bereits wieder gezählt. Das Grammophon ist einfacher zu bedienen, kann längere Musikstücke abspielen und ist zudem kompakter. Bis in die 1920er Jahre verschwindet das Polyphon allmählich vom Markt und ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Heute sind historische Polyphone begehrte Sammlerstücke und finden sich in Museen oder privaten Kollektionen.
Das Polyphon steht in einer langen Reihe von Entwicklungen, die zur modernen Musikwiedergabe führen, die ohne die Vorläufer nicht denkbar wäre. Die Idee, Musik mechanisch zu speichern und ohne Live-Interpretierende abzuspielen, hat sich von der Hydraulis über das Polyphon bis hin zu digitalen Medien weiterentwickelt. Die Technik inspirierte spätere Innovationen – von der Lochkarte in der frühen Computertechnik bis hin zur digitalen Musikdatei. Das Polyphon ist somit nicht nur kurioses Relikt des 19. Jahrhunderts, sondern auch ein Beispiel dafür, wie die Menschheit seit der Antike daran arbeitet, Daten unabhängig vom Moment ihrer Entstehung zu konservieren und wiederzugeben.