Nachbarschaft

Braune Relikte (18): Anrichte „Art deco“.

Kann uns ein Möbelstück etwas über die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erzählen? Es kann, denn die Geschichte dieser Anrichte zeigt, wie die jüdische Bevölkerung durch sich stetig verschärfende Bestimmungen sukzessive ausgegrenzt wurde. Aus Hausärzt*innen, Nachbar*innen, Mitschüler*innen und Arbeitskolleg*innen von gestern wurden durch sozialen Druck „Fremde“, ja „Feinde“.

Die Maßnahmen begannen unmittelbar 1933: Im Frühjahr wurden jüdische Menschen zur Auswanderung aufgefordert und am 1. April ihre Geschäfte boykottiert. Am 7. April wurden mit dem Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ die meisten „nichtarischen“ Beamten entlassen. Durch die Gründung der „Reichskulturkammer“ am 22. September wurden Juden aus dem Kulturleben gedrängt. Das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 schloss sie vom „Ehrendienst am deutschen Volk“ aus. Seit Sommer 1935 wurden Hinweisschilder „Juden unerwünscht“ an Ortseingängen, öffentlichen Anlagen, Bädern, Geschäften und Restaurants angebracht. Am 15. September entzog das „Reichsbürgergesetz“ ihnen die vollen politischen Rechte und das Gesetz „zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verbot und bestrafte Eheschließungen und außerehelichen Verkehr zwischen Juden und Jüdinnen mit Angehörigen „deutschen oder artverwandten Blutes“.

Die verbliebenen jüdischen Beamten wurden zum 31. Dezember 1936 zwangsweise pensioniert. Am 23. Juli 1938 wurden besondere Kennkarten eingeführt und bis zum 30. Juli erloschen alle Approbationen jüdischer Ärzte. Am 17. August wurden die Zwangsnamen „Israel“ und „Sarah“ eingeführt, ab 5. Oktober alle Pässe mit einem „J“ gekennzeichnet. Nach dem Novemberpogrom folgten Schulverbote, Wohnbeschränkungen, die Konfiszierung von Vermögenswerten etc.

Es lag an jeder/m Einzelnen, ob er/sie die durch Propaganda weltanschaulich definierte Ausgrenzung mittrug. Nur die wenigsten widersetzten sich den Maßnahmen und solidarisierten sich; teils aus Sorge um das eigene Wohl, teils aus Überzeugung, hatte der Antisemitismus doch traurige Tradition. Jüdische Kinder aus Osnabrück berichten, wie ihre früheren Freunde in HJ-Uniform sie plötzlich auf der Straße angriffen. Steine mit Beschimpfungen wie „Saujuden“ flogen in Klassenzimmer der Jüdischen Schule. Auf die soziale Isolierung und den beruflichen Ausschluss folgte spätestens mit der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942, auf der unter der zynischen Losung „Endlösung der Judenfrage“ der Völkermord an der jüdischen Bevölkerung Europas koordiniert wurde, die systematische Verfolgung, Deportation und industrialisierte Ermordung in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Wer nicht direkt ermordet wurde, erlebte unter unmenschlichen Bedingungen – Misshandlungen, Unterernährung, Kälte usw. – seine „Vernichtung durch Arbeit“.

Karl Heil aus Ankum begleitete schon als Schüler jüdische Viehhändler regelmäßig auf den Osnabrücker Viehmarkt. Später besaß er dort eine eigene Marktstelle, die ihm aber während des Nationalsozialismus aberkannt wurde; seine Viehagentur konnte er erst nach 1945 wieder aufnehmen. Heil kannte die jüdischen Viehhändler Grünberg und Neublum. Zwischen 1941 und 1945, während der Deportationen, wurde ihm von einem dieser beiden laut eigener Aussage vor dessen Abschied die Anrichte mit der Bitte anvertraut, sie bis zu seiner Rückkehr aufzubewahren. Heil hob das Möbelstück auf. Es wurde jedoch nie abgeholt.

 

Zu dieser Serie
Es ist die Geschichte einer Stadt, doch was hier geschah, ereignete sich auch in vielen anderen deutschen Städten. Die Serie „Braune Relikte“ basiert auf der Sammlung Nationalsozialismus, die sich im Museumsquartier Osnabrück befindet. Anhand von Objektbiografien wird die Geschichte des Nationalsozialismus mit seinen Ursachen und Folgen veranschaulicht. So entsteht ein virtueller Lernraum, der die Fundstücke einer Diktatur analysiert, um Lernprozesse für demokratische Gesellschaften zu ermöglichen.