Neues vom Epigonen

Seine Verdienste als Pädagoge sind unbestritten – liest sich die Liste seiner Schüler doch wie ein Who´s Who der Musikgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Doch auch der Komponist Carl Reinecke wird selten erwähnt, ohne auf andere Künstler, vorzugsweise seine Idole Felix Mendelssohn-Bartholdy und Robert Schumann, hinzuweisen. 2024, zur Feier seines 200. Geburtstages, stand der Jubilar an alter Wirkungsstätte aber selbst im Mittelpunkt.

Er würde nicht dagegen opponieren, wenn man ihn einen Epigonen nennen sollte, gab Carl Reinecke einmal zu Protokoll. Dass er mit diesem Bekenntnis zur musikalischen Tradition eine Abwertung des eigenen Oeuvres beabsichtigte, ist kaum anzunehmen. Dem jahrzehntelangen Leiter des Leipziger Gewandhausorchesters ging es vielmehr darum, den Reichtum eines schier unerschöpflichen künstlerischen Erbes produktiv aufzunehmen und immer wieder neu zu gestalten.

Dabei gelangte Reinecke durchaus zu originellen Formaten und musikalischen Lösungen – etwa in dem „Concert-Stück für Chor und Orchester“, in dem er zu Beginn der 1880er Jahre „Sommertagsbilder“ nach Texten von Julius Altmann, Georg Scheurlin, Heinrich Heine, Robert Reinick und Friedrich Rückert in Szene setzte. Neben den aufwändigen Chorsätzen, die alle romantischen Register ziehen, sind auch die opulente Ouvertüre und zwei Intermezzi, welche die mottohaft zitierten Verse von Altmann und Heine „ohne Worte“ ausdeuten, absolut repertoiretauglich.

Dem einst von Reinecke gegründeten GewandhausChor gelingt mit der camerata lipsiensis unter der Leitung von Gregor Meyer eine sehr stimmungsvolle Darbietung, die fast nebenbei verdeutlicht, wie sehr der Komponist seine Arbeit über die Jahre verfeinert und ausdifferenziert hat. Wirkt doch das Oratorium „Belsazar“ (1859), das auf diesem im Leipziger Gewandhaus aufgenommenen Doppel-Album ebenfalls zu hören ist, trotz der kantigen Gegenüberstellung von Gut und Böse seltsam bieder und steril, als fehle seinem Schöpfer mitunter noch das Gespür für dramatische Entwicklungen und packende Momente. Musikalische Schönheiten gibt es freilich auch hier zu entdecken – sowohl in den Chor- als auch in den Solopartien, die von Anja Pöche, Nora Steuerwald, Florian Sievers und Bernhard Hansky stil- und klangvoll interpretiert werden.

Carl Heinrich Reinecke: Belsazar – Oratorium für Soli, Chor und Orchester op.73; Sommertagsbilder – Concert-Stück für Chor und Orchester op. 161, cpo, 2 CDs