Braune Relikte (37): Hocker aus ehemaliger Munitionskiste.
Die materiellen Zerstörungen des Krieges bedrohten die Menschen existenziell. Neben der nötigen Versorgung mit Lebensmitteln war auch die Organisation von ausreichendem Wohnraum in den zerstörten Städten wichtig. In den Kalten Wintern war das fehlende ‚Dach über dem Kopf‘ lebensbedrohlich. Die Not sorgte für Improvisationskunst und Solidarität.
Die kontrollierte Bewirtschaftung der Kriegszeit setzte sich unter der alliierten Militärverwaltung fort und sollte erst mit der Währungsreform ein Ende finden. Viele kannten die Steuerung des Verbrauchs noch aus dem Ersten Weltkrieg. Auch in der Weimarer Zeit waren bestimmte Lebensmittel und Verbrauchsgüter regelmäßig rationiert und nur schwer zu bekommen gewesen. Zudem waren Ersatzstoffe verbreitet. Notdürftig eingerichtete Unterkünfte waren noch bis in die 1950er Jahre üblich, fließendes Wasser Luxus. Gedruckte Ratgeber lieferten Anleitungen, wie aus Materialresten wie alten Munitionskisten provisorische Möbel hergestellt werden konnten. Der Stifter des hier abgebildeten Hockers berichtet: „Meine Eltern waren ausgebombt. Auf Bezugsschein bekamen wir im Herbst 1945 zwei Hocker zugeteilt. Meine Mutter und ich konnten diese direkt aus der kleinen Möbelfabrik an der Nobbenburger Straße abholen. Dort wurden die Hinterlassenschaften des Krieges, nicht mehr benötigte Munitionskisten, zu Sitzgelegenheiten verarbeitet.“ Das praktische aufklappbare Möbel wurde auch zur Aufbewahrung von Holzwäscheklammern genutzt.
Für große Versorgungsprobleme sorgte die Ankunft der Vertriebenen und Flüchtlinge aus den ehemaligen ostdeutschen Gebieten. Ihre Ernährung und Unterbringung musste ebenfalls sichergestellt werden. Sie wurden in die verbliebenen Wohnquartiere der kriegszerstörten Städte mit einquartiert. Die Behausungen bestanden oft nur aus einem einzigen Raum, in dem gewohnt, geschlafen und gearbeitet wurde. Wer in einer Familie einquartiert war, hatte Anspruch, zu bestimmten Zeiten die Küche zu nutzen. Doch in vielen Fällen wurde in dem eigenen Raum auch noch gekocht und gewaschen. Es kam zu Spannungen zwischen Neuankömmlingen und einheimischer Bevölkerung.
Nach ihrer Ankunft und notdürftigen Einrichtung mussten sich die Flüchtlinge und Vertriebenen eine neue wirtschaftliche Existenz aufbauen. An eine Rückkehr in die alte Heimat war angesichts der politischen Entwicklung im Kalten Krieg nicht zu denken. Viele schlossen an ihre alten Unternehmungen an und gründeten diese im Westen neu. Der schlesische Drogist eröffnete wieder eine Drogerie; der ostpreußische Tischler etablierte eine neue Tischlerei. Trotz der großen Zahl gelang ihre Integration in die westdeutsche Gesellschaft. Die anfängliche Ablehnung durch die Einheimischen, die insbesondere durch die Konkurrenz in der allgemeinen Not nach Kriegsende bedingt war, legte sich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der „Wirtschaftswunderjahre“. Größere politische Konflikte blieben aus, da sich die Landsmannschaften als Vertretungen der Heimatvertriebenen frühzeitig für eine gewaltfreie, demokratische Politik entschieden. In der DDR durften die sogenannten Umsiedlerinnen und Umsiedler dagegen nicht auf ihr Schicksal aufmerksam machen. Viele von ihnen konnten später in die Bundesrepublik ausreisen.
Für den wirtschaftlichen Aufschwung, der wesentlich zur Vermeidung einer krisenhaften Situation beitrug, sorgte besonders die ausländische Hilfe der Westalliierten. Anstelle umfassender Demontagen und Reparationszahlungen, wie sie die Verhältnisse in der SBZ prägten, präsentierte US-Außenminister George C. Marshall am 5. Juni 1947 das European Recovery Program (ERP), das nach ihm „Marshall-Plan“ genannt wurde.
Zu dieser Serie
Es ist die Geschichte einer Stadt, doch was hier geschah, ereignete sich auch in vielen anderen deutschen Städten. Die Serie „Braune Relikte“ basiert auf der Sammlung Nationalsozialismus, die sich im Museumsquartier Osnabrück befindet. Anhand von Objektbiografien wird die Geschichte des Nationalsozialismus mit seinen Ursachen und Folgen veranschaulicht. So entsteht ein virtueller Lernraum, der die Fundstücke einer Diktatur analysiert, um Lernprozesse für demokratische Gesellschaften zu ermöglichen.