Operette im Zwielicht

Seit gut drei Jahrzehnten werden die musikalischen Qualitäten, aber auch die theatralischen und gesellschaftskritischen Impulse der Operette (wieder)entdeckt. Im Fokus standen dabei vor allem Werke aus der zweiten Hälfte des 19. und Stücke des frühen 20. Jahrhundert. Doch mittlerweile tauchen auch Paul Abraham, Ralph Benatzky oder Nico Dostal wieder vermehrt auf den Spielplänen auf.

Vor allem der Letztgenannte wird bis heute kritisch betrachtet. Nico Dostal, 1895 in Korneuburg geboren und 1981 in Salzburg verstorben, musste – im Gegensatz zu vielen Operettenkomponisten und -textdichtern, die im Dritten Reich verfolgt, außer Landes getrieben oder sogar ermordet wurden – seine Heimat nicht verlassen. Problematischer noch: Er diente sich den Nationalsozialisten an und füllte die Lücken, die durch das Verbot von Werken jüdischer Autoren entstanden waren. So ersetzte „Die ungarische Hochzeit“ (1939) Operetten von Emmerich Kàlmán oder Paul Abraham, während die Schmonzette „Monika“ (1937) offenbar als „arische“ Variante des Kassenschlagers „Das Schwarzwaldmädel“ gedacht war, dessen Komponist Leon Jessel von der Gestapo so schwer misshandelt wurde, dass er 1942 an den Folgen seiner Verletzungen starb.

Dostals Operette „Clivia“, die im Dezember 1933 im Berliner Theater am Nollendorfplatz aufgeführt wurde und nun in einer musikalischen Gesamtaufnahme der Oper Graz vorliegt, war allerdings keine Verbeugung vor den neuen Machthabern, sondern eine Reminiszenz an die Zeit schönster Unbotmäßigkeit. Das Buch entwarfen der jüdische Schauspieler und Librettist Franz Massarek (Pseudonym: F. Maregg), der 1939 nach Nisko deportiert wurde und seitdem verschollen ist und der Komponist, Operetten- und Schlagertexter Charles Amberg, der 1944 unter bis heute nicht geklärten Umständen im Konzentrationslager Neuengamme inhaftiert wurde.

Ihre Geschichte spielt irgendwo in Südamerika – rund um die fiktive Bananenrepublik Boliguay, die Zielscheibe unterschiedlichster Interessen wird. Der amerikanische Finanzmogul E. W. Patterton will hier die neue Regierung stürzen, um seine Geschäfte mit den alten, bewährt-korrupten Partnern weiterführen zu können. Derweil träumt die egozentrische Filmschauspielerin Clivia Gray von immer größeren Schlagzeilen, während der Erfinder Gustav Kasulke versucht, seine phänomenale Schlafmaschine zu verkaufen. Ob der revoltierende General, Gelegenheitsgaucho und Teilzeitpräsident Juan Damigo da noch Zeit zum Regieren hat, spielt eigentlich keine Rolle, denn im Kern geht es dieser Operette – wie den besten ihres Genres – vor allem darum, den sogenannten Ernst des Lebens zu ignorieren und die Welt auf den Kopf zu stellen, um wenigstens probehalber neue, unverstellte Perspektiven zu gewinnen.

Dostal, Massarek und Amberg setzen die Blendwerke der Filmindustrie, des Politikbetriebs und der menschlichen Emotionen dabei so grell in Szene, dass dem Publikum bisweilen das Mitsummen vergeht. „Gefühle hin, Gefühle her – ein Bankkonto bedeutet mehr“, auf diese schnöde Bilanz scheint der knallbunte Plot am Ende hinauszulaufen. Was bei genauerer Überlegung freilich nicht überraschen kann, denn musikalisch ist Boliguay längst kolonialisiert. In Nico Dostals ohrwurmträchtiger, feinsinnig instrumentierter, mit Modetänzen und Jazzanklängen gespickter Partitur finden sich keine Instrumente oder musikalischen Formen, die unzweideutig dem südamerikanischen Kontinent zuzuordnen wären. Die schmissigen Tanzrhythmen sind in der Regel spanischen Ursprungs – auch der exotische Schauplatz ist bloße Kulisse.

Jahrzehntelang war „Clivia“ nur noch ein seltener Gast auf deutschen Bühnen, doch seit der viel beachteten Produktion der Geschwister Pfister an der Komischen Oper Berlin (2014) ist das Interesse neu erwacht. Im Oktober 2021 präsentierte die Oper Graz eine Neuinszenierung von „Clivia“ – hier waren fast 70 Jahre seit der letzten Produktion vergangen. Die musikalische Gesamtaufnahme bietet nun endlich eine moderne Variante zu den mitunter recht dickflüssigen Einspielungen des vergangenen Jahrhunderts. Den Protagonisten Sieglinde Feldhofer (Clivia) und Matthias Koziorowski (Juan) hätte ein augenzwinkerndes Neben-die-Rolle-Treten mitunter gut getan, gesanglich agieren aber beide auf hohem Niveau. Anna Brull (Jola), Ivan Orescanin (Lelio), Markus Butter (Potterton) und der Schauspieler Gerald Pichowtz (Kasulke) sorgen mit gelungenen Rollenporträts für die unterhaltsamen Momente und die gut gelaunten Grazer Philharmoniker formieren sich unter der Leitung von Marius Burkert zu einer perfekten Operettencombo mit leichter Jazznote.

Nico Dostal: Clivia, 2CDs, cpo