William Makepeace Thackerays „Jahrmarkt der Eitelkeit“ gilt als einer der bedeutendsten englischsprachigen Romane des 19. Jahrhunderts. Das satirische Gesellschaftspanorama hat bis heute nicht an Brillanz und Schärfe verloren, wie die soeben erschienene Neuübersetzung von Hans-Christian Oeser zeigt.
Es gibt Täter und Opfer auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit, aber selbst den Kriegstreibern und Kapitalisten, den scheinheiligen Egozentrikern und moralischen Bankrotteuren begegnet der Erzähler mit so viel Nachsicht, dass ihnen eine Portion Würde bleibt und eine Erklärung für ihr uneinsichtiges, rücksichtsloses, mitunter auch verwerfliches Verhalten auf halbem Wege entgegenkommt.
Im Zeitalter George IV., das zumindest bis 1815 vom gewaltigen kontinentalen Schatten Napoleon Bonapartes verdunkelt wird, müssen Menschen, die nicht im Getriebe des Alltagslebens untergehen wollen, einfach ihr Glück versuchen – und tatsächlich enden ja auch nicht alle so trostlos wie der spielsüchtige Offizier Rawdon Crawley, sein hormongesteuerter Kamerad George Osborne, der gefühlskalte Lord Steyne oder der seltsame Joseph Sedley, der schon als Steuereinnehmer für Boggley Wollah beste Voraussetzungen mitbringt, um ein englischer Oblomow zu werden. Miss Rebecca Sharp, die egozentrischste, boshafteste, intriganteste und skrupelloseste aller Hasardeure zahlt einen hohen Preis für ihre Sehnsucht nach Reichtum, Einfluss und Anerkennung, darf zu guter Letzt aber unwidersprochen als Lady Crawley auftreten. Und den Leser interessiert sie auch am Ende des Romans immer noch mehr als ihre von Grund auf anständige, aber schauderhaft einfältige Gegenspielerin Amelia Sedley.
Es scheint fast so, als wolle die Gesellschaft betrogen oder wenigstens über die ernüchternde Realität hinweggetäuscht werden, und an der beiderseitigen Bereitschaft – zum Betrügen und Betrogenwerden – hat sich in 200 Jahren wenig geändert. Folgerichtig darf der „geneigte Leser immerfort daran erinnern werden,
dass diese Geschichte auf ihrem knallgelben Einband den Titel Jahrmarkt der Eitelkeit trägt und dass der Jahrmarkt der Eitelkeit ein sehr eitler, sündhafter, törichter Ort ist, voll von allerlei Schwindeleien, Unaufrichtigkeiten und Anmaßungen.
Damit entlastet der Erzähler seine Figuren nicht von der persönlichen Verantwortung, sucht die Ursachen für all die auf mehr als 900 Seiten verstreuten Liebesdramen, Hochzeiten und Todesfälle, Aufstiege und Niedergänge aber auch in dem Haifischbecken, das wir Gesellschaft nennen. Hier herrschen Gesetzmäßigkeiten, denen sich wenigstens alle freiwilligen Teilnehmer gebeugt haben, auch wenn sie unter keinen Umständen damit rechnen sollten, im Falle eines Scheiterns auf Empathie und Nachsicht zu treffen.
William M. Thakeray war wohl weniger Romancier als Satiriker und Analytiker, insofern stehen auch Übersetzer vor einer Herkulesaufgabe, wenn sie die durcheinanderlaufenden Handlungsstränge und die Vielzahl der Personen in einen halbwegs strukturierten Zusammenhang bringen wollen. Hans-Christian Oeser gelingt es, in dieser „novel without a hero“ den Überblick zu behalten und durchgehend unparteiisch zu bleiben. Für das Leseverständnis wäre gleichwohl ein etwas umfangreicherer Anmerkungsteil mit Erklärungen zu historischen Personen und Ereignissen, geographischen, religiösen oder kulturellen Besonderheiten hilfreich gewesen.
Außerdem hätte man von Oeser, der bislang vor allem zeitgenössische Autorinnen und Autoren ins Deutsche übertragen hat, gerne ein paar Sätze zu Anlass und Motivation dieser Neuübersetzung gelesen. Vielleicht nach dem Modell von Vera Bischitzky, die im Anhang zu Iwan Gontscharows „Eine gewöhnliche Geschichte“ jüngst aufschlussreiche Einblicke in ihre Arbeit gewährt hat. Seit den 1950er Jahren, als „Vanity Fair“ von Mira Koffka, Theresa Mutzenbecher oder Elisabeth Schnack geradezu in Serie übersetzt wurde, ist schließlich einige Zeit vergangen.
William Makepeace Thackeray: Jahrmarkt der Eitelkeit, Reclam, 48 €