Paradies mit Rolltreppe

Sommer 1955: „Ganz Paris träumt von der Liebe“, behauptet Caterina Valente, die sich seit Monaten an der Spitze der deutschen Charts tummelt. Derweil gießt man fernab der französischen Hauptstadt einen eher prosaischen Traum in Beton. Nach 99 Tagen steht das Gebäude, das Zeitungen als „modernstes Kaufhaus Europas“ und „Magnet der Großstadt“ feiern, mitten in Osnabrück.

Als das Kaufhaus „Merkur“ am 7. Juli 1955 seine Pforten öffnete, schienen die entbehrungsreichen Nachkriegsjahre endgültig vorbei zu sein. Die Kundinnen und Kunden standen plötzlich in einem Einkaufsparadies, das alle bekannten Dimensionen sprengte.

Auf einer Verkaufsfläche von 6.800 Quadratmetern wurden rund 60.000 Artikel angeboten. Das Spektrum reichte von „Waren des täglichen Bedarfs“ über Kleidung, Radio- und Elektrogeräte bis hin zu Teppichen und Möbeln. Das Kaufhaus „Merkur“ verfügte außerdem über ein hauseigenes Restaurant, eine Milchbar und eine Phonobar, in der mit hoher Wahrscheinlichkeit auch von Caterina Valente und der Liebe in Paris geträumt wurde.

Nur der Name mahnte bei näherer Betrachtung noch an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. War doch die von den jüdischen Brüdern Salman und Simon Schocken geleitete Schocken AG 1938 „arisiert“ und in „Merkur Aktiengesellschaft“ umbenannt worden. Merkur galt in der römischen Mythologie eben nicht nur als Götterbote und Schutzpatron der Händler, sondern auch als Gott der Diebe.

Salman Schocken bekam sein Unternehmen allerdings nach dem Krieg zurück und veräußerte es später an Helmut Horten. Dessen Unternehmensgruppe betrieb zwischenzeitlich knapp zwei Dutzend Merkur-Warenhäuser in ganz Deutschland.

Auf dem Weg nach oben

Eine der größten Attraktionen, die der Konsumtempel in Osnabrück zu bieten hatte, war die nagelneue Rolltreppe. Das gemütliche Transportmittel wurde zwar schon ein halbes Jahrhundert zuvor erfunden und fuhr im „Merkur“ zunächst nur „nach oben“, fand aber sofort begeisterte Anhänger. Für Verkäufer und Kassierer gab es reichlich zu tun, denn manche Kunden kamen nur, um sich ein wenig fahren zu lassen. Gut, dass 600 Mitarbeiter auf der Gehaltsliste standen, die sich um Kunden, Artikel, die Rolltreppe und den ordnungsgemäßen Zustand der Registrierkassen kümmerten.

Viele mittelständische Unternehmen sahen die Konkurrenz „mit einer gewissen Beklemmung“, wie Günther Stucke, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer in seiner Eröffnungsansprache zugab. Er sei allerdings optimistisch, dass der Wohlstand in Deutschland weiter wachse und damit auch der Gesamtumsatz des Handels steige.

Stucke behielt Recht, zumindest in den folgenden Jahren. 1964 bekam das Kaufhaus dann – wie an vielen anderen Standorten – einen neuen Namen, ein modernisiertes Sortiment und einen Fassadenaufsatz aus 9.000 Keramikteilen, die als „Hortenkacheln“ in die Geschichte eingingen.

Die Wabenfassade überlebte den Warenhauskonzern, für den sie ihr stilisiertes „H“ zeigte, um viele Jahre. 1995 übernahm Kaufhof das Gebäude, doch auch dieses Unternehmen war nur ein Gast auf Zeit.