Es sind mehrere Jahrzehnte vergangen, seit Louis Spohrs „Des Heiland letzte Stunden“ zum letzten Mal aufgenommen wurde. Die neueste Einspielung unter der Leitung von Frieder Bernius zeigt, dass dieses eindrucksvolle Passionsoratorium sehr viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.
Spohr schrieb sein drittes Oratorium Mitte der 1830er Jahre offenbar unter dem Eindruck einer Aufführung von Bachs „Matthäuspassion“, die er selbst einstudiert hatte. Mit seinem Librettisten Johann Friedrich Rochlitz entschied er sich allerdings für eine ganz andere Perspektive. Was Jesus in seinen letzten Stunden begegnete, erfahren wir hier durch seine Mutter Maria und den Jünger Johannes, der weite Strecken des Geschehens als Augenzeuge beschreibt.
Überdies verzichtet Rochlitz in der Gerichtsszene auf Pontius Pilatus, sodass dem verblendeten Oberpriester Kaiphas eine noch entscheidendere Rolle zufällt. Der Bonner Theologieprofessor Hertmut Löhr hat diese Konstellation und einzelne Textstellen des Oratoriums als „antijüdische Akzente“ gedeutet. Es scheint aber keineswegs ausgeschlossen zu sein, dass für den theaterbegeisterten, mit immer neuen Projekten beschäftigten Rochlitz dramaturgische Erwägungen ausschlaggebend waren.
Wenn die aufwühlende Gerichtsszene zum emotionalen Mittelpunkt des Oratoriums wird, ist das ohnehin in erster Linie dem Komponisten zu verdanken, der den „Chor der Priester und des Volks“ auf die „Freunde und Freundinnen Jesu“ treffen lässt und sie mit Solisten und Orchester am Ende des ersten Teils zu einem opulenten Finale verbindet. Aber auch die stimmungsvollen Instrumentalpassagen, phantasievollen Arien und facettenreichen Rezitative weisen „Des Heiland letzte Stunden“ als echten Spohr aus, der bei aller Verehrung barocker Vorbilder ganz eigene, nunmehr romantische Wege beschreitet.
Mit dem perfekt disponierten Kammerchor Stuttgart und der exquisiten Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unterstreicht Frieder Bernius nicht nur die historische Bedeutung, sondern auch die Repertoiretauglichkeit dieses selten gespielten Werkes. In den Hauptpartien überzeugen Johanna Winkel (Maria) und Florian Sievers (Johannes) mit makelloser Intonation und hoher Textverständlichkeit. Doch auch die kleineren Rollen sind mit Maximilian Vogler (Jesus), Arttu Kataja (Petrus, Nicodemus), Thomas E. Bauer (Judas), Felix Rathgeber (Kaiphas) und Magnus Piontek (Philo) hochkarätig besetzt.
Louis Spohr: Des Heilands letzte Stunden, 2 CDs, Carus