Aufgelesen (15): Willibald Alexis´ Roman „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“.
Auch wenn der Schatten des Alten Fritz noch allerorten präsent ist – als die Romanhandlung im Sommer 1805 einsetzt, steht Preußen am Rande einer Katastrophe. Die Weltpolitik ist für den jungen Staat eine Nummer zu groß, seine politischen Akteure werden von Napoleon Bonaparte zu Statisten degradiert und der halbherzige Versuch, innerhalb eines nicht existierenden Deutschlands, in Österreich oder Russland mächtige Bündnispartner zu gewinnen, scheitert kläglich. 1.300 Seiten später schiebt die Doppelschlacht von Jena und Auerstedt Preußen ins politische Abseits, Königin Luise verlässt in einer Kutsche ihr geliebtes Berlin.
Willibald Alexis´ Roman „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ (1852) ist heute so vergessen wie sein Autor, der als Georg Wilhelm Heinrich Häring 1798 in Beslau geboren wurde. Häring wollte zunächst Jurist werden. Nach ersten Erfolgen als Schriftsteller verzichtete er auf eine Beamtenlaufbahn, veröffentlichte in der Sammlung „Der neue Pitaval“ aber eine Vielzahl spektakulärer Kriminalfälle.
Populär wurde Alexis als Begründer des realistischen historischen Romans. In monumentalen Werken wie „Der Roland von Berlin“ (1840), „Der falsche Woldemar“ (1842), „Die Hosen des Herrn von Bredow“ (1846) oder „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ ließ er vor allem die brandenburgisch-preußische Geschichte Revue passieren.
Die Verbrecherwelt als Abklatsch der höheren Stände
Das Buch, das Alexis nicht ohne Hintersinn als „Vaterländischen Roman“ bezeichnete, gewährt dem Leser bis heute einen faszinierenden Querschnitt durch eine zerfallende Ständegesellschaft. Die Hauptrollen in dem vielschichtigen Roman, der Staatsaktionen virtuos mit privaten Dramen mischt, spielen überforderte und korrupte Minister und Spekulanten, mordlustige Offiziere, politikmüde Bürger, Betrüger und Giftmischer. Die „Verbrecherwelt“, so resümiert ein Protagonist“, sei eben nur ein „Abklatsch der höhern Stände“.
Für eine nationale Erhebung oder auch nur eine Rückbesinnung auf den berühmten König und Kriegsherrn des vergangenen Jahrhunderts, bleibt da kein Raum mehr. Die preußische Gesellschaft interessiert sich nicht für Identitäten, sondern für Geschäfte – so wie der Kaufmann van Asten:
Ich bitte Sie, ich wiederhole es, was sind Nationalitäten? Fragen Sie, wenn Sie Pfeffer kaufen, von wem Sie ihn kaufen? Der billigste Verkäufer ist der beste. Und wenn Sie verkaufen, wer den höchsten Preis dafür zahlt, der ist der beste Käufer; nicht, ob er Italiener ist, Franzos oder Russe.
Dass der steile Aufstieg des Finanz- und Wirtschaftsapparats die Gesellschaft verändern und neu strukturieren wird, ist nur noch eine Frage der Zeit. Der Legationsrat von Wandel, der im Laufe des Romans als Betrüger und Mörder enttarnt wird, prophezeit:
Sie, die Herren von der Industrie werden bald die wahre reelle effektive Universalmonarchie in Händen haben, wie die großen Handelsherren in dem kleinen Venedig ehedem, wie im großen England und im noch größeren Amerika jetzt schon und in Zukunft noch mehr.
Vorgelogener Partiotismus
Als Königin Luise, der Staatsminister Stein, Prinz Louis Ferdinand oder General Ernst von Rüchel schließlich versuchen, die Bürger gegen den vorrückenden Napoleon zu mobilisieren, sammelt man zwar Geld für Wintermäntel und Leibbinden. Doch die viel zitierte Melange aus Opfermut, Todesverachtung und Vaterlandsliebe, die hunderte Autoren den Preußen zuschrieben, hat in diesem Roman einen schweren Stand:
Die Vaterlandsliebe, was ist sie, auf ihre Grundstoffe zerlegt? Ein grober Egoismus! Und dieser Patriotismus, den wir uns vorlügen, jeder sich selbst, in noch stärkerer Dosis dem andern, und der gibt ihn uns wieder zurück, aufgeschwollen, bis das grauenhafte Phantom fertig ist, das Wolkenbild, das unsre Sinne verwirrt, unsre Vernunft uns raubt. Und was bleibt dann?
Preußen fehlt in diesem Roman die gesellschaftliche und politische Spannkraft, um sich erfolgreich gegen einen Aggressor zu wehren. Problematischer noch erscheint die innere Leere der Figuren, in der jedes Gefühl für Humanität und Mitmenschlichkeit zu versinken droht. Die in Berlin lebende Fürstin Gargazin lässt ihren Kutscher zu Tode peitschen und überwacht die drakonische Strafmaßnahme persönlich – „ohne mit den Augenwimpern zu zucken, ohne auf die Wehlaute des Zerfleischten ein Halt zu rufen.“ Sie lächelt, „während ein seltsamer Glanz in ihren Augen leuchtete und ihre Stirn wie vor Freude sich rötete“.
Der Geheimrat Lupinus echauffiert sich, dass seine Kammerdienerin (und spätere Frau) Charlotte die Kinder zu einer Hinrichtung gebracht hat, um sich gleich darauf zu erkundigen, ob die Kleinen „auch ordentlich gesehen hätten“. Brave Bürger hetzen gegen „Zigeuner und Juden und Spanier“, vermeintlich ehrenhafte Motive zerrinnen in vielerlei Grauzonen. Und am Ende verwandelt sich das Zentrum des herrischen Preußentums in einen babylonischen Abgrund:
Das wahre Motiv, Herr, das ist überall dasselbe: Der Größere frisst den Kleineren, wenn er Appetit hat und sein Magen es verträgt, und der Unterschied ist nur der: Die großen Verbrecher kommen in die Geschichtsbücher und wir kleinen irgendwo in ein Kriminalregister.