Samuel Taylor Coleridge und Dorothy und William Wordsworth in Deutschland (1798/99). Teil 1: Hamburg.
1798 machten sich drei Größen der englischen Romantik – Samuel Taylor Coleridge sowie William und Dorothy Wordsworth – auf den Weg nach Deutschland. Wie sie das Land und seine Bewohner erlebten, hielten sie pointiert und kurzweilig in ihren Briefen und Tagebüchern fest. Ihre erste Station war Hamburg.
Eine breite, zunehmende Mondsichel hängt in der Nacht vom 16. September 1798 über der Nordsee. Der Seegang ist ausreichend, dass viele der Passagiere auf dem Paketschiff, einem kleinen Segler, seekrank in ihren Kabinen liegen; unter ihnen auch William und Dorothy Wordsworth und John Chester. Aber sie alle hören deutlich Samuel Taylor Coleridge, wie er zusammen mit einigen Dänen und Deutschen, mit denen er schnell in Kontakt gekommen war, auf Deck „Reden schwingt, singt, fechtet, Country Dances tanzt“ (Griggs, Collected Letters of Samuel Taylor Coleridge, S.421). Denn endlich war er mit seinen Freunden auf dem Weg nach Deutschland, wie er es schon seit März geplant hatte. Die Sprache seiner Briefe und vieler Tagebucheintragungen zeigt von Anfang an seine Bereitschaft, das Besondere im Fremden zu sehen und an der ihn umgebenden Welt teilzunehmen, wie zum Beispiel in dieser Beschreibung der Nordsee:
Der Ozean bei Nacht ist ein nobles Objekt; eine schöne weiße Schaumwolke tost und rauscht in flüchtig aufscheinenden Augenblicken an der Seite des Schiffes vorbei, und Sternenflammen tanzen & glitzern und erlöschen in ihr – & mitunter huschen leichte Abteilungen von Schaum mit ihren Galaxien von Sternen weg von der Seite des Schiffes & verschwinden umherstreifend außer Sichtweite, wie eine Truppe Tartaren über eine Wildnis hinweg! (ibid., S.416)
Hier klingt schon die dichterische Kraft von „Kubla Khan“ an, eines von Coleridges bekanntesten Gedichten.
Warum reisen drei junge Engländer nach Deutschland?
Am Morgen des 16. September war der sechsundzwanzigjährige Coleridge zusammen mit seinen Freunden, der siebenundzwanzigjährigen Dorothy Wordsworth und deren achtundzwanzigjährigem Bruder William Wordsworth von Great Yarmouth in Norfolk, Ostengland, auf diese Reise aufgebrochen, da der übliche Weg über Dover und Calais wegen des 2. Koalitionskrieges gegen das napoleonische Frankreich aktuell nicht möglich war. Alle drei werden sich als einige der wichtigsten Stimmen der englischen Romantik etablieren. Coleridge und William Wordsworth haben mit der Publikation ihrer „Lyrischen Balladen“ kurz vor der Abreise dafür schon eine wichtige Grundlage gelegt. Dorothy Wordsworths Ruhm wird noch wesentlich länger auf sich warten lassen – erst viele Jahre nach ihrem Tod wird sie als Autorin evokativer Tagebücher und als zentrale Mitwirkende bei der Autorenschaft ihres Bruders gebührend wertgeschätzt.
Begleitet werden die drei vom dreiunddreißigjährigen John Chester, einem Kaufmann aus Bristol der heutzutage als früher ‚Fan‘ der beiden Männer bezeichnet werden könnte. Die Seereise nach Hamburg dauert insgesamt drei Tage. Coleridges geselliges Betragen währenddessen und der deutliche Kontrast der Wordsworths hierzu lässt sich nicht nur körperlich erklären. Tatsächlich ist die Geselligkeit des einen und die Zurückgezogenheit der anderen exemplarisch für ihr weiteres Verhalten während der Reise. Dorothy Wordsworths Beschreibungen ihrer Aktivitäten lesen sich ganz anders als Coleridges lebhafter Bericht:
Wir tranken Tee an Deck unter dem Licht des Mondes. Ich genoss die Einsamkeit und Stille, und manch eine erinnerte Freude, als ich dem unverständlichen Kauderwelsch der vielen Sprachen zuhörte, die in der Kajüte gesprochen wurden“ (Selincourt, Journals of Dorothy Wordsworth, S.19).
Sicherlich spielen hier auch die unterschiedlichen Motivationen der drei eine ausschlaggebende Rolle: Während die Initiative der Reise ganz eindeutig von Coleridge ausging, der in Deutschland die Sprache lernen, eine Lessing-Biografie schreiben und Naturwissenschaften an einer deutschen Universität studieren will, treten William und Dorothy Wordsworth die Reise wohl hauptsächlich an, um weiterhin mit ihrem Freund zusammen zu sein und ihre inspirierenden Gespräche über Dichtung und Philosophie aus den Monaten zuvor, die sie gemeinsam in Somerset verbracht hatten, fortsetzen zu können.
Vage Pläne, Geld mit Übersetzungen zu verdienen, lesen sich in den Briefen von William Wordsworth eher als Rationalisierung dieser Entscheidung denn als wirklicher Antrieb. Es bleibt also in der weiteren Entwicklung zu beobachten, welche Bedeutung diese Deutschlandreise für Coleridge, William und Dorothy Wordsworth, für das Fühlen, Denken und Schreiben dieser drei jungen Menschen haben wird.
Das stinkende Hamburg
In Hamburg angekommen ist die Enttäuschung aller drei auf jeden Fall erst einmal groß. Am präsentesten ist der Gestank, den sowohl Coleridge als auch Dorothy Wordsworth erwähnen. Dieser stammt unter anderem, wie Dorothy am Beispiel eines achtjährigen Mädchens belegt, das sie beobachtet hat, daher, dass die Menschen sich teilweise auf offener Straße erleichtern. Für William Wordsworth ist Hamburg einfach nur ein „trauriger Ort“ (Selincourt, The Early Letters of William and Dorothy Wordsworth, S.199). Coleridge spricht in einem Brief an seine Frau Sara vom „Dreck, dem Lärm und der talggesichtigen Schurkerei von Hamburg“ (Griggs, Collected Letters of Samuel Taylor Coleridge, S.420). Aber er ist auch fasziniert von den vielen unterschiedlichen Menschen, die es hier vor allem am Hafen und auf der Elbe zu sehen gibt: „Sah ein Boot nach Hamburg – vollgestopft mit Menschen aller Nationen mit Pfeifen in allen Formen und Moden“ (Coburn, The Notebooks of Samuel Taylor Coleridge, #335).
Das Pfeife rauchen ist eine deutsche Angewohnheit, die sie aus England nicht in dieser Ausprägung kannten und die ihnen allen sofort auffällt. Für Dorothy und William Wordsworth ist wiederum bezeichnend, dass sie sich Hamburg vor allem in Spaziergängen zu den Vororten und umliegenden Dörfern wie Blankenese und Altona erschließen. Wie auch in England fühlen sie sich in der Großstadt nicht wohl, auch wenn sie zumindest erleichtert sind, dass der in London allgegenwärtige Kohlerauch Hamburg noch nicht erreicht hat. William Wordsworth äußert sich nach mehrfachen Betrugsversuchen durch die Hamburger Ladenbesitzer voller Abscheu: „Geld, Geld ist hier der universell angebetete Gott und Habgier und Wucher unter den niedrigeren Klassen und den Klassen direkt über ihnen; und diese sind gerade verbreitet genug, um Gegenstand von Ruhm und Hochgefühl zu sein“ (Selincourt, The Early Letters of William and Dorothy Wordsworth, S.200).
Und auch wenn die allgemeine Gewalttätigkeit auf den Straßen geringer ist als England, wie von Dorothy Wordsworth vermerkt, muss sie doch auch zwei Ereignisse in ihrem Tagebuch festhalten, die bemerkenswerte Ausnahmen bilden. So beobachtet sie am 28. September 1798, wie ein circa fünfzigjähriger Mann eine anständig gekleidete circa siebenunddreißigjährige Frau mehrfach auf die Brust und danach mit einem Stock auf offener Straße schlägt – ohne dass sich die Passanten daran stören (Selincourt, Journals of Dorothy Wordsworth, S.27). Auch als am 30. September ein Jude von einem Deutschen beschimpft und geschlagen wird, greift niemand ein, ja man erklärt ihr auf Nachfragen noch, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht, da der Jude sich in diesem Bezirk Hamburgs nicht aufhalten durfte (ibid., S.29). Der Blick aus dem Ausland enthüllt hier Missstände, die vor Ort keine Aufmerksamkeit mehr erregen.
Spaziergänge rund um Hamburg
Um die Großstadt und solche Erlebnisse zu meiden, suchen die Wordsworths das ländliche Leben und die einfache Bevölkerung dort, für die sie ein wohlwollenderes Auge haben. So beschreibt Dorothy Wordsworth, dass „die niederen Klassen der Frauen im Allgemeinen wesentlich reinlicher in ihrer Person sind als solche von vergleichbarem Status in England“ (Selincourt, Journals of Dorothy Wordsworth, S.22). Leider wird auch die Freiheit ihrer Spaziergänge regelmäßig vom frühen Schließen der Hamburger Stadttore um 18.30 Uhr beschnitten – eine Regelung, die Dorothy Wordsworth überhaupt nicht nachvollziehen kann.
Coleridge ist oft Teil dieser Spaziergänge, entweder mit beiden zusammen oder nur mit William. Auf einem dieser Spaziergänge entdecken sie eine Regelung zur Prostitution, die sie so nicht kannten: „Nach dem Abendessen bin ich mit Wordsworth nach Altona gegangen – haben die Prostituierten alle in einer Straße vorgefunden / haben vorher noch keine gesehen“ (Coburn, The Notebooks of Samuel Taylor Coleridge, #346). Sie sind hier in einen Vorläufer der Straße gestolpert, die später als Reeperbahn weltberühmt werden sollte.
Ein Treffen mit dem „Vater der deutschen Dichtung“
Eine zentrale gesellschaftliche Begegnung während des Hamburg-Aufenthalts von Coleridge, Dorothy und William Wordsworth ist ein Treffen mit dem Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock am 26. September 1798. Der von ihnen ehrfürchtig als „Vater der deutschen Dichtung“ (Coburn, The Notebooks of Samuel Taylor Coleridge, #339) bezeichnete Autor ist zu diesem Zeitpunkt schon 74 Jahre alt und damit zwei Generationen älter als die jungen Engländer. Es überrascht also nicht, dass die Realität sie erst einmal enttäuschte und ihrer Heldenverehrung einen Strich durch die Rechnung machte, denn Klopstocks physische Erscheinung war alles andere als beeindruckend: Er hatte „einen zahnlosen Oberkiefer und einen Unterkiefer voller schwarzer Zähne“ (ibid.) mit „Beinen so geschwollen wie dein Oberschenkel“ (Selincourt, The Early Letters of William and Dorothy Wordsworth, S.200).
Auch ist ihr Gespräch durch die Sprachbarriere behindert, denn noch hat keiner der drei Engländer ausreichend Deutsch gelernt. William Wordsworth kann sich zumindest mit Französisch behelfen, aber das beherrscht Coleridge nicht, der ja der eigentlich Interessierte an der deutschen Sprache und Dichtung ist. Es ist also nicht verwunderlich, wenn in der kritischen Rezeption dieser Begegnung immer wieder ein negativer Eindruck von Klopstock betont wird, vor allem mit Blick auf ganz unterschiedliche Beurteilungen von deutscher und englischer Lyrik durch ihn und William Wordsworth.
Aber vielleicht ist dies zu einseitig und das letzte Wort sollte hier lieber Coleridge und Dorothy Wordsworth gegeben werden, die Klopstock als „aktiv, & lebhaft, & heiter, & gesprächig“ (Coburn, The Notebooks of Samuel Taylor Coleridge, #339) und als jemanden, der „sich die Lebendigkeit und Aufgewecktheit der Jugend beibehalten hat“ (Selincourt, Journals of Dorothy Wordsworth, S.24) erleben.
Trennung und Weiterreise
Insgesamt halten sich Coleridge, Dorothy und William Wordsworth und ihr Begleiter Chester (der in den Briefen und Tagebüchern erstaunlich wenig erwähnt wird) gut zwei Wochen in Hamburg auf. Coleridge erkundet zusammen mit Chester schon vom 23. – 28. September seinen nächsten Aufenthaltsort Ratzeburg, wohin sie am 30. September endgültig aufbrechen. Die Wordsworths bleiben dann noch bis 3. Oktober, bevor sie dann auch abreisen – allerdings nach Goslar.
Diese Trennung erstaunt zunächst, war doch die Gesellschaft von Coleridge einer der Hauptgründe, warum sie mit auf diese Reise gekommen sind. Doch ihre Finanzen erlauben ihnen den Aufenthalt im teureren Ratzeburg nicht. Dass sich die Freunde nicht überworfen haben, zeigt auch ihr weiter herzlicher und intensiver Briefwechsel und die Freude bei einem Wiedersehen in Göttingen. Jedoch wird diese Trennung erste Tendenzen, die sich bei Coleridge auf der einen Seite und den Wordsworths auf der anderen Seite schon in Hamburg herausgebildet haben, nur weiter verstärken.
Wie Coleridge weiterhin einer möglichst umfassenden deutschen Bildung hinterherjagt, vor allem im Bereich der Philosophie und Metaphysik, während die Wordsworths sich ganz auf sich und die Erinnerungen zurückziehen, die sie aus England mitgebracht haben, soll Thema eines weiteren Artikels werden, der im April 2023 hier auf www.kulturabdruck.de erscheint.
Textnachweise der zitierten und erwähnten Publikationen (alle Übersetzungen durch den Autor):
Earl Leslie Griggs, Collected Letters of Samuel Taylor Coleridge, Oxford 1956; Kathleen Coburn, The Notebooks of Samuel Taylor Coleridge, London 1957; Rosemary Ashton, The Life of Samuel Taylor Coleridge, Oxford 1996; Florian Bissig, Samuel Taylor Coleridge. Eine Biografie, Zürich 2022; Ernest de Selincourt, Journals of Dorothy Wordsworth, London 1952; Ernest de Selincourt, The Early Letters of William and Dorothy Wordsworth, Oxford 1935; Stephen Gill, William Wordsworth. A Life, Oxford 1989; Robert Gittings und Jo Manton, Dorothy Wordsworth, Oxford 1985; Adam Nicolson, The Making of Poetry, London 2019