Rückkehr in ein fremdes Land

Aufgelesen (4): Heinz Liepmans Roman „Das Vaterland“.

Es ist eine Reise ohne Wiederkehr, obwohl die Besatzung des Dampfers „Kulm“ am 2. Weihnachtstag des Jahres 1932 nur zu einer Routinefahrt nach Island aufbricht. Als die Seeleute drei Monate später nach Hamburg zurückkehren, schlendern sie nicht mehr durch eine weltoffene Metropole.

Aus den Fenstern wehen Hakenkreuzfahnen, in den Straßen marschiert das faschistische Fußvolk und wer von den neuen Machthabern zum Staatsfeind erklärt wurde, hat plötzlich kein Vaterland mehr. Die Neuankömmlinge erfahren bald am eigenen Leib, wie radikal sich ihre Heimat verändert hat. Der Gewerkschaftler Jonny Sudde und der mutmaßliche Kommunist Karl Baumann müssen im Untergrund verschwinden. Doch auch für bekennende Deutschnationale gelten die alten Regeln nicht mehr. Als Kapitän Schirmer gegen die Misshandlung von „Marxistenschweinen“ protestiert, landet er selbst mit lebensgefährlichen Verletzungen im Krankenhaus.

Derweil versucht der Jude Arthur Jacobson verzweifelt, Freunde und Verwandte vor dem Staatsterror zu schützen. Doch viele können nicht verstehen, dass sie von der neuen Regierung nicht mehr als Deutsche und nicht einmal mehr als Menschen betrachtet werden.

In ihren Geschäften saßen die Juden. Sie saßen auf Hockern und sahen vor sich hin. Sie hatten es ganz vergessen, dass sie Juden waren. Sie hatten ihr Vaterland geliebt, die Sprache ihrer Heimat und deren Bäume, Wiesen und Seen.
´Deutsche, kauft nicht bei Juden! Die Juden sind euer Unglück.´
Sie sind das Unglück. Gestern waren sie noch Menschen, Leidensgefährten, Kameraden, heute sind sie das Unglück.
Sie saßen auf den Stühlen und Hockern, sie starrten ins Leere. Und da geschah es, dass Juden, die keine Juden mehr gewesen waren, plötzlich wieder Juden wurden. Ihre Arme wurden ihnen zentnerschwer. Ihre Rücken krumm und die Augen groß und traurig.

Arthur Jacobson bezahlt seinen Einsatz mit der Deportation in ein Konzentrationslager, aber in der Besatzungsliste der „Kulm“ gibt es auch Profiteure des neuen Regimes. Der 1. Offizier Petersen und der Maschinist Fretwurst finden nun Aufgaben, die ihrer Brutalität und Skrupellosigkeit ideal entgegenkommen.

Wer Heinz Liepmans 1933 erschienenen „Tatsachenroman“, der „den in Hitler-Deutschland ermordeten Juden“ gewidmet war, mit Blick auf die folgenden Jahre hellsichtig nennt, liegt sicher nicht falsch. Allerdings begann der Terror des Nationalsozialismus nicht mit dem Zweiten Weltkrieg oder der Wannsee-Konferenz. Schon in den ersten Tagen, Wochen und Monaten etablierten die Nationalsozialisten eine Gewaltherrschaft, der schnell Hunderte und Tausende zum Opfer fielen.

Liepman verfolgt die Ursachen dieses beispiellosen Zivilisationsbruches aber noch weiter zurück und zeigt mit beinahe dokumentarischem Anspruch, wie sich Hitler und seine Gefolgsleute die politische Indifferenz vieler Anhänger der Weimarer Republik zunutze machen und durch die Unterstützung von Führungskräften aus Politik, Militär und Gesellschaft einen vergleichsweise bequemen Weg an die Macht finden konnten.

Auch die Kultur spielte dabei eine unheilvolle Rolle, wie Heinrich Böll festgestellt wissen wollte, der Liepmans Roman 1978 als „Rückkehr in ein fremdes Land“ las und im Vorwort der Neuauflage notierte:

Liepman schildert die Verbreitung des Schreckens in allen Lebensbereichen: in Schule, Straßenbahn, Nachbarschaft, Berufsleben, Zeitungswesen, und er schildert es auf eine besonders eindringliche und beschämende Weise im Schriftstellerverband, wo Feigheit und ein provinziell grundiertes Ressentiment sich wie eine Krankheit ausbreiten, die man heutzutage noch in gewissen Kreisen in gewissen Verbänden spüren kann.

Heinz Liepmann wurde 1905 (mit zwei “n“) in Osnabrück geboren – ebendort, wo auch der befreundete, aber ungleich berühmtere Kollege Erich Maria Remarque das Licht der Welt erblickte. Ab Mitte der Zwanziger Jahre arbeitete er als Dramaturg, Bühnenautor und Journalist. 1929 erschien sein erster Roman „Nächte eines alten Kindes“, ein Jahr später folgte „Die Hilflosen“, für den er den Harper-Literaturpreis erhielt.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden seine Werke verboten. Liepmann gelang die Flucht, die ihn zunächst in die Niederlande führte. Im Dezember 1933 erschien „Das Vaterland“ in Amsterdam, kurze Zeit später wurde er wegen „Beleidigung des Staatsoberhauptes eines befreundeten Staates“ verhaftet und nach Belgien abgeschoben. Über Frankreich und England gelangte er schließlich in die USA. Dort amerikanisierte er seinen Namen und schrieb sich fortan „Liepman“.

1947 kehrte er nach Hamburg zurück, siedelte aber 1961 in die Schweiz über, wo der eben erwähnte Erich Maria Remarque ebenfalls seine Wahlheimat gefunden hatte. Am 6. Juni 1966 starb Heinz Liepman in Agarone. Noch in seiner letzten Publikation „Kriegsdienstverweigerung oder Gilt noch das Grundgesetz?“ (1966) engagierte er sich für ein neues, demokratisches und friedliebendes Deutschland.

Heinz Liepman lesen

Der Hamburger Historiker und Publizist Wilfried Weinke hat sich in unserem Jahrhundert intensiv mit Liepman beschäftigt. „´Ich werde vielleicht später einmal Einfluß zu gewinnen suchen´. Der Schriftsteller und Journalist Heinz Liepman (1905-1966). Eine biografische Rekonstruktion“ ist 2017 im Universitätsverlag Osnabrück erschienen und umfasst gut 700 Seiten.
„Das Vaterland“ erlebte – im Gegensatz zu allen anderen Liepman-Werken – 2018 noch einmal eine Neuauflage im Fischer-Verlag.
Eine kleine Online-Präsentation zu Autor und Werk gibt es auf den Internetseiten des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums: www.remarque.de/liepmann/liepmann.html