Aufgelesen (3): Friedrich Wolfs Schauspiel „Cyankali“.
Als „Cyankali“ 1929 in Berlin uraufgeführt wurde, nahm einer der größten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts seinen Lauf. Hitzige Debatten, Massendemonstrationen und handfeste Auseinandersetzungen begleiteten den Weg eines Stückes, dessen Autor gegen den „Abtreibungsparagraphen“ 218, vor allem aber gegen die Notsituation einer ganzen Bevölkerungsschicht protestierte.
Das Arbeiterpaar Hete und Paul lebt in ärmlichen Verhältnissen. Aber wenigstens haben beide eine Anstellung, sodass Hetes Schwangerschaft allenfalls ein Problem für die moralisierende Nachbarschaft wäre. Doch als Paul von seinem Betrieb ausgesperrt wird, nach und nach auf die schiefe Bahn gerät und schließlich auch Hete ihre Stellung verliert, ändert sich die Situation dramatisch.
Die junge Frau sucht Hilfe – bei der Familie, Freunden, dem schmierigen Hausverwalter Prosnik und dem Arzt Dr. Möller, der Gesellschaftsdamen durchaus zu einer Abtreibung verhilft, wenn die Schwangerschaft ihre Teilnahme an einem Hockeyturnier in Davos gefährdet. Doch für Hete hat Möller nur Worthülsen auf Lager. So landet sie schließlich bei Madame Heye, die Verständnis für junge Mädchen „mit schiefen Absätzen und zerbrochener Seele“ heuchelt. Sie gibt Hete ein Fläschchen: „Das ist Gift, eigentlich … aber nur ´ne ganz schwache Lösung, und in kleinen Mengen da hilft´s … das Cyankali.“
Für Friedrich Wolf – den Sohn eines jüdischen Kaufmanns, promovierten Mediziner und überzeugten Kommunisten – war die Kunst „kein Erbauungsmittel in der Hand von Pädagogen, Studienräten und Rauschebärten“, sondern „Scheinwerfer und Waffe“ im Kampf um eine bessere Gesellschaft. Auch „Cyankali“, dieses brodelnde Stück Zeitgeschichte, wurde von der bitteren Realität inspiriert. Der Deutsche Ärztetag schätzte die Zahl der Abtreibungen in Deutschland 1926 auf 500.000 bis 800.000 pro Jahr. Rund 10.000 Frauen überlebten den – damals illegalen und bis heute nur unter bestimmten Voraussetzungen straffreien – Eingriff nicht.
Wolfs Plädoyer für eine neue, humane Gesetzgebung rief alsbald die Staatsmacht auf den Plan: 1931 wurde er selbst wegen des Vorwurfs illegaler und gewerbsmäßiger Abtreibungen verhaftet und erst nach massiven öffentlichen Protesten wieder freigelassen.
Erich Kästner kommentierte die Berliner Aufführung im September 1929 für die „Neue Leipziger Zeitung“ und berichtete seinen Lesern von ungeahnten Wirkungsmöglichkeiten des Theaters. Vielleicht sei es der Literatur ja doch möglich, das Leben zu verändern:
Am Schluss der „Cyankali“-Aufführung, die ich besuchte, schrie eine Stimme vom Balkon: „Nieder mit dem Paragrafen 218!“ Und ein tumultartiger Chor von Mädchen– und Männerstimmen rief: „Nieder mit ihm, nieder, nieder!“ Und die Zeitungen greifen das Thema wieder auf, und die Ärzte werden antworten und die juristische Reichstagskommission wird Arbeit bekommen und erneut Stellung nehmen müssen. Durch ein Theaterstück veranlasst! Das macht wieder Mut.
Wolfs außergewöhnlicher Erfolg war nicht nur seinem politischen Engagement, sondern vor allem seinem theatralischen Talent geschuldet. Überzeugende Geschichten, starke, lebensechte Figuren und pointierte Dialoge verhinderten, dass er im Ideologischen und Agitatorischen steckenblieb. Stücke wie „Cyankali“, „Die Matrosen von Cattaro“ (1930) oder „Professor Mamlock“ (1933), eine bis heute aufrüttelnde Analyse des deutschen Antisemitismus, fanden weltweit ihr Publikum und eroberten schließlich sogar die Leinwände.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Wolf vor allem im Ostblock und in seiner „Wahlheimat“ DDR erfolgreich, doch auch in Westdeutschland hatte seine Stimme Gewicht – insbesondere während der Massenproteste gegen den Paragraphen 218 in den 70er Jahren.
Das öffentliche Interesse an Friedrich Wolf hat seitdem gelitten, doch vergessen wurde der umstrittene Kämpfer für Frieden und Menschenrechte (noch) nicht. Die Friedrich-Wolf-Gesellschaft ist bemüht, die Erinnerung an Leben und Werk lebendig zu halten. Unterstützt wird sie dabei unter anderem vom Filmmuseum Potsdam, dass beim Label „absolut MEDIEN“ 2016 eine umfangreiche Dokumentation zur Geschichte des Theaterstücks „Cyankali“ veröffentlicht hat. Auf 2 DVDs sind auch die beiden „Cyankali“-Verfilmungen aus den Jahren 1930 und 1977 zu sehen.
Die Söhne
Aus Wolfs zweiter Ehe mit Else Dreibholz gingen zwei Söhne hervor, die auf sehr unterschiedliche Weise von sich reden machten. Konrad (1925-82) wurde einer der profiliertesten Filmregisseure der DDR und setzte neben „Professor Mamlock“, einem der meistgespielten Theaterstücke seines Vaters, auch Christa Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“ in Szene.
Markus (1923-2006) leitete 34 Jahre lang die Hauptverwaltung Aufklärung im Ministerium für Staatssicherheit und ging als Spionagechef der DDR in die Geschichte ein.