Nature Writing ist eine neue Gattung in der Literatur, die aus dem angelsächsischen Sprachraum kommt und derzeit große Aufmerksamkeit erfährt. In Abgrenzung zu anderen literarischen Gattungen oder Sichtweisen auf die Natur und Umwelt stellt Nature Writing den Menschen als betrachtendes, aber auch integriertes Subjekt in den Mittelpunkt.
Natur wird nicht als feindlich beziehungsweise bedrohlich gesehen oder als etwas, dass es in erster Linie auszubeuten gilt. Nature Writing will die Natur wahrnehmen als etwas, von dem der Betrachter ein ebenbürtiger Teil ist, womit alle anderen Bestandteile der Natur ein ebensolches Recht auf Existenz haben.
Alles ist grün, aber wie grün genau?
Wenn wir von Nature Writing sprechen, geht es um Wahrnehmung, denn nur das, was ich wahrnehme, kann ich auch beschreiben. Wer jetzt in der Natur ist, im Garten, Park oder Wald, wird schnell feststellen, dass die Farbe Grün dominiert. Bei genauerer Betrachtung fällt allerdings auf, dass es unzählige Schattierungen von Grün gibt: junge Buchenblätter haben ein helles, gelbliches Grün, anders als das Moos auf dem Waldboden, das tief dunkelgrün ist. Die Spitzen der Zweige der Eibe, unter der ich sitze und diesen Text schreibe, sind zwar dunkler als die jungen Buchenblätter, aber auch nicht so dunkelgrün, wie das Moos auf dem Boden.
Die Farbe des Moses gleicht eher den Nadeln der Eibe aus dem letzten Jahr. Dass wir im Bereich Grün so viele Schattierungen sehen können, hängt auch mit dem Aufbau unseres Auges und der Evolution zusammen. Für unsere waldbewohnenden Vorfahren war es überlebenswichtig, im grünen Durcheinander des Waldes den Überblick zu behalten.
Machen wir aber doch mal eine praktische Übung daraus: Suchen wir uns ein Stück Natur – ob es ein Park in der Stadt oder eine Wiese auf dem Land oder ein Wald ist, spielt keine Rolle. Wir schließen für einen Moment die Augen und versuchen unsere Gedanken zu stoppen. (Mir hilft ruhige Musik ohne Gesang über Kopfhörer gut dabei.) Dann öffnen wir für einen kurzen Moment die Augen, eine Sekunde genügt. Danach schließen wir sie wieder und erinnern uns an unsere mentale Aufnahme.
Als nächstes suchen wir uns das aus, was unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Vielleicht das eine Blatt, dass geknickt und umgedreht am Ast hängt, vielleicht das glänzende Blatt einer kleinen Pflanze, welches gerade das Licht der Sonne reflektiert.
Was uns nie auffallen würde …
Haben wir unser Objekt gefunden, öffnen wir die Augen wieder, schauen es uns genauer an und prägen es uns ein, so gut wir können. Versuchen wir, es einfach nur anzuschauen, ohne es zu bewerten. Mir hilft es zum Beispiel, die Musik in den Kopfhörern ein bisschen lauter zu stellen, um aufkommende Gedanken zu übertönen.
Beim Betrachten werden wir Dinge feststellen, die uns normalerweise nie auffallen würden: Die Pflanze mit dem abgeknickten Blatt sieht vielleicht aus wie ein Kobold. Neben der Pflanze liegt ein Stück Papier, das möglicherweise aus einem Tagebuch gerissen wurde. Der Busch hinter meiner Pflanze mit dem abgeknickten Blatt bewegt sich im Wind usw. usf.
Im nächsten Schritt lenken wir unseren Blick wieder auf unseren Stift oder Laptop und beginnen zu beschreiben, was wir gesehen haben. Es geht hierbei nicht um richtig oder falsch, um die beste und exakteste Beschreibung, sondern darum, dass wir uns schreibend dem Objekt nähern.
Wie eine Skizze auf dem Papier aus ganz vielen Strichen entsteht, wollen wir Form, Farbe, Bewegung als etwas Lebendiges, Dynamisches einfangen und diese Beobachtung dann möglicherweise als Idee für einen Text zu nehmen.
Den können Sie mir übrigens auch gerne schicken 😉: redaktion@kulturabdruck.de